Marie Miro

Das Haus mit der Ecke


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Morgen erwacht, regnet es. Es liebt den Regen über alles, denn Regen, müsst ihr wissen, fühlt sich für ein Haus an, als wenn tausend Kinderhände einen kitzeln. Und so lacht das Haus erst einmal einige Minuten leise ganz für sich, bevor es richtig wach wird. Es schüttelt sich ein wenig und Holzbalken knarzen sanft vor sich hin. Es ist mucksmäuschenstill. Ach, was sage ich, auch Barbara schläft noch, es ist also mucksrattenstill. Das Haus hört in sich hinein. Versuche du das einmal, das ist gar nicht so einfach. Es hört das sanfte Schnarchen von Barbara und das krächzende Ausatmen von Max. Aber, wo ist Anna? Im Schlafzimmer ist es still. Es riecht seine Bewohnerin auch gar nicht mehr. Alte Menschen riechen nämlich wie alte Häuser. Nicht unbedingt schlecht, aber eben alt. Wer viele Jahre lebt, trägt viel Erlebtes mit sich und viel Zeit, die manchmal staubig ist und nach Vergangenem duftet. Ganz so, wie wenn eure Mutter einen Kuchen backt und die Küche noch Tage später nach dem Teig duftet, obwohl der Kuchen längst verputzt ist. Das Haus mit der Ecke wundert sich. Es ist so, als wäre Oma Anna einfach verschwunden. Doch dann erinnert es sich, dass es sowas schon einmal erlebt hat, als der Mann von Oma Anna, Heinrich, gestorben war. Das Haus erschrickt. Dann rüttelt und schüttelt es sich etwas fester, lässt den kalten Westwind durch die Ritzen flitzen, knarzt mit den Balken an der Decke und lässt das Schlafzimmerfenster aufspringen, damit etwas frische Luft in den Raum strömt. Doch das Haus mit der Ecke reißt damit nur Max und Barbara aus dem Schlaf, die wenig erfreut sind über das abrupte Wecken.

      „Hey, Ecke, spinnst du? Kannst du nicht etwas feinfühliger sein? Ich habe gerade von einem Berg von Regenwürmern geträumt!“, krächzt noch halb verschlafen Max hervor und schüttelt erst einmal sein dunkles Gefieder.

      „Ja, genau, mach doch nicht am frühen Morgen so einen Radau. Wir Ratten sind feinfühlige Wesen. Meine Haare an der Schnauze zittern noch vor Schreck“, piepst Barbara hervor, die erst einmal die Morgentoilette erledigt.

      „Aber, so hört doch. Irgendwas stimmt mit Anna nicht. Ich spüre sie nicht mehr!“, antwortet das Haus mit einer brummigen, leicht heiseren Stimme, die ein wenig so klingt, als habe man gerade einen kräftigen Husten. Das Haus mit der Ecke spricht allerdings immer so.

      Mit ihren flinken Füßchen rennt Barbara direkt durch das kleine Loch in der Decke und landet mit einem Sprung auf dem weißen Bettbezug. Daneben auf dem Boden liegt Anna. Barbara hüpft auf die Hüfte von Anna und tippelt dann zu ihrem Gesicht hinauf. Sie schnuppert noch zwei, drei Mal mit ihrer feinen Nase auf und ab, dann ist ihr sofort klar, was passiert ist. Barbara ist nicht mehr die jüngste Ratte und als solche hat man schon fast alles gesehen, gerochen und gekostet.

      „Max, Ecke. Oma Anna ist gestorben. Ich spüre es ganz deutlich. Aber Anna macht irgendwie einen richtig friedlichen Eindruck, ein Lächeln liegt auf ihrem Gesicht. Ich glaube, sie steht jetzt für immer auf einer Bühne und bekommt Applaus. Es sieht so aus, als wenn sie ganz sanft zu Boden geglitten ist, leicht wie eine Feder im Wind.“

      Häuser, müsst ihr wissen, können nicht weinen. Wenn sie traurig sind, dann knarzen sie etwas häufiger als sonst. In gewisser Weise sind sie wie alte Großväter, die manchmal halblaut vor sich hin grummeln, ohne dass man es wirklich versteht. Das Haus mit der Ecke brummt ganz schön in den nächsten Tagen, während Max und Barbara versuchen, es immer wieder aufzuheitern. Erst nach und nach gelingt es ihnen. Max flattert dafür solange mit seinen Flügeln im Speicher herum, bis einzelne Blätter wild herum fliegen und das Haus kitzeln. Dabei wird dem Haus manchmal richtig schummrig, als wenn es zu viel gelacht hätte und in solchen Momenten ist es sehr froh, dass es fest am Boden steht. Was würde das sonst für einen Eindruck auf die anderen Häuser machen, wenn es vor Lachen einfach seitlich umkippen würde? Barbara erzählt ihm dagegen immer wieder Geschichten von ihren vielen Abenteuern, die sie als junge Ratte so erlebt hat und wie sie mehr als einmal dem Gevatter Tod noch gerade so von der Schippe gesprungen ist. Und so beruhigt sich das Haus nach und nach wieder und freut sich sogar, wenn sich nachts streunende Hunde an der schwarzen Ecke reiben und ihnen Katzen dabei missmutig vom Zaun herab zuschauen.

      3

      Es sind einige Tage vergangen, die für das Haus seltsam waren. Viele Menschen waren da. Zuerst die Nachbarin, die bemerkte, dass Oma Anna nicht mehr im Garten zu sehen war. Dann kamen Polizisten und später ein Krankenwagen mit Sanitätern. Und schließlich auch der Neffe von Oma Anna, also der Sohn ihres verstorbenen Bruders. Das Haus hat ihn noch nie wirklich gemocht. Als er noch ein Kind war und ab und an mit seinen Eltern zu Besuch kam, hat er sich immer in den Garten geschlichen und Blumen aus den Beeten gerissen. Dann ging er an die hintere Wand des Hauses und schnitt mit seinem Klappmesser immer Kerben in das Holz.

      „Hey, Ecke, wie geht es dir denn heute?“, fragt Max und verspeist kurz darauf einen leckeren Regenwurm.

      „Ich bin noch etwas traurig, dass Oma Anna nicht mehr da ist“, brummelt das Haus vor sich hin.

      „Ach, papperlapapp, was heißt hier nicht mehr da? Die ist doch überall. In der Küche steht ihre Lieblingstasse, auf dem Ohrensessel liegt ihre Kuscheldecke und im Dachboden sind ihre ganzen Erinnerungen in Kisten gepackt. Oma Anna lebt noch in dir, Ecke. Und das noch für sehr lange Zeit!“

      „Genau, Ecke, so ist das. Du darfst Max da durchaus glauben. Weißt du, im Grunde kann gar nichts wirklich sterben, verstehst du? Mein Ururururururur-Großvater hat das schon berichtet und immerhin hat er die halbe Welt gesehen. Der war eine richtige Schiffsratte und kam aus Afrika herüber gesegelt in einem großen Schiff voll mit Gewürzen. Und der hat das seinen Kindern erzählt, und die ihren und so weiter, bis meine Eltern es mir erzählt haben. Also, Ecke, das muss wahr sein. Wenn man stirbt, dann wird man zu Staub. Auch du als Haus wirst in ganz vielen Jahren zu Staub zerfallen. Und irgendwann baut man aus dem Staub wieder etwas Neues auf. Du musst immer erst sterben, bevor du etwas Neues werden kannst. Und dann bist du kein Haus mehr, sondern vielleicht eine Blume oder ein Fahrrad oder ein Mensch sogar“, erklärt ihm Barbara.

      „Oder du hast ganz viel Glück und wirst das intelligenteste Wesen auf diesem Planeten: ein Rabe!“, krächzt Max freudig und frech.

      „Quatsch, die cleversten Tiere sind und bleiben die Ratten! Uns gibt es schon immer und inzwischen gibt es zehn Mal mehr Ratten als Menschen auf dem Planeten!“, protestiert Barbara vehement.

      „Ihr meint also, aus Oma Anna wird wieder etwas Neues werden? Wird sie denn wieder eine Oma werden?“

      „Das weiß niemand, Ecke. Vielleicht wird sie auch was ganz Anderes werden. Du weißt doch auch nicht, was du wieder werden wirst.“

      Während er das sagt, plustert sich Max kurz auf und sein, vom leichten Regen der Nacht noch feuchtes, schwarzes Gefieder funkelt im Tageslicht wie die Sonnenstrahlen auf dem Meer, wenn man die Augen zuzwinkern muss, um überhaupt noch hinschauen zu können.

      „Hoffentlich wird sie keine Tiefgarage werden“, sagt das Haus mit der Ecke nachdenklich.

      „Warum?“, schießt es fragend aus Max und Barbara gleichzeitig hervor.

      „Weil eine Tiefgarage doch niemals die Sonne sieht. Das ist doch schade. Und weil eine Tiefgarage niemals in der Früh von den ersten Strahlen wachgekitzelt wird, wenn sie klein und fein langsam über das Dach krabbeln.“

      Die Erklärung leuchtet dem Raben und der Ratte ein und sie nicken beide zustimmend mit ihren Köpfen.

      „Na, wie gesagt, wenn sie Glück hat, wird sie ein prächtiger Rabe mit schwarzem Gefieder!“

      „Max, spinn´ doch nicht rum. Natürlich muss sie eine Ratte werden!“

      „Ein Rabe!“

      „Eine Ratte!“

      „Ein Rabe!“

      „Eine Ratte!“

      Das Haus mit der Ecke schmunzelt in sich hinein und hört dem nicht ganz ernst gemeinten Streit noch eine Weile lang zu, bis die Wärme des Tages in die Holzbalken und in den Speicher kriecht und es müde macht. Noch die Stimmen von Max und Barbara im nicht vorhandenen Ohr schläft das Haus mit der Ecke langsam ein.

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