Ilka-Maria Hohe-Dorst

Bonjour, Paris


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      Sie stopfte die Notiz achtlos in ihre Handtasche.

      „Sie können die Rechnung für mein Zimmer in das Fach von Monsieur Desmoulins legen. Er bleibt noch bis morgen und wird alles zusammen bei seiner Abreise regeln. Au revoir, Monsieur.“

      Sie gab dem Pagen das Zeichen, loszugehen.

      „Ich wünsche eine gute Reise, Madame Desmoulins“, rief der Rezeptionist ihr hinterher mit dem unbehaglichen Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, als er sich von Bernd die Namen der Desmoulins entlocken ließ.

      * * * * *

      Zehn Minuten vor acht betrat Bernd die Hotelhalle des Frankfurter Hofs und ging zur Rezeption, wo ihn eine Frau mittleren Alters freundlich empfing.

      „Ich bin mit Madame und Monsieur Desmoulins verabredet. Würden Sie ihnen bitte ausrichten, dass ich in der Lounge auf sie warte.“

      „Gerne.“

      Die Rezeptionistin prüfte die Buchungen, um die Zimmernummer von Juliette Desmoulins festzustellen, und runzelte die Stirn.

      „Tut mir leid, Sie müssen sich in Ihrem Termin geirrt haben. Madame Desmoulins ist am Nachmittag abgereist. Sie hatte auch nur für eine Nacht gebucht.“

      „Hat sie eine Nachricht für mich abgegeben?“

      „Wie heißen Sie?“

      „Busse, Bernd Busse.“

      Die Rezeptionistin wandte sich den Fächern zu. Ein kurzer Blick genügte ihr, Juliette Desmoulins Fach zu finden.

      „Nein, an niemanden. Das Fach ist leer.“

      „Und Monsieur Desmoulins? Ist er ebenfalls abgereist?“

      „Nein, aber er hat das Hotel vor zwei Stunden verlassen, und ich kann Ihnen leider nicht sagen, wann er wieder zu erreichen sein wird.“

      „Wie lange will er in Frankfurt bleiben?“

      „Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben, das wäre gegen die Vorschrift. Wollen Sie eine Nachricht für ihn hinterlassen?“

      „Nein, vielen Dank.“

      Bernd verließ frustriert das Hotel, steuerte die nächste Telefonzelle an und wählte Bettinas Nummer.

      „Ich bin’s.“

      Der Ärger in seiner Stimme war nicht zu überhören.

      „Madame ist kommentarlos abgereist, an übertriebener Neugier scheint sie demnach nicht zu leiden. Und ihr Sohn ist nicht erreichbar, weil er offensichtlich dem Frankfurter Nachtleben nicht widerstehen konnte. Was machen wir jetzt?“

      Bettinas Antwort klang müde.

      „Der Tag war anstrengend, Bernd. Wahrscheinlich haben wir Gespenster gejagt. Mach dir einen schönen Abend und ruh dich aus. Wir sehen uns morgen beim Notar. Dann bringen wir hoffentlich die Formalitäten hinter uns.“

      Das Testament

      Im Konferenzzimmer des Notars Rainer Richolt hatten sich Bettina, Bernd und Lutz Wenger, eingefunden. Die Kanzlei Claaßen & Partner verfügte über kein eigenes Notariat, sondern arbeitete, wenn es um die Abwicklung notarieller Dokumente ging, mit Richolt zusammen, der Eduards volles Vertrauen besaß. Folgerichtig hatte er ihn auch für sein Testament in Anspruch genommen.

      Wenger fühlte sich fehl am Platz. Er hatte keine Vorstellung darüber, weshalb er vom Notar mit Bettina und Bernd zusammen hergebeten worden war, denn auch wenn Eduard sein Freund gewesen war, gingen ihn dessen Vermögensverhältnisse und testamentarischen Regelungen nichts an. Das war allein Bettinas Angelegenheit. Selbst Bernds Anwesenheit empfand Wenger als überflüssig, denn Bettinas Bruder hatte nicht das Recht, von Eduard, der ihn jahrelang finanziell unterstützt hatte, über dessen Tod hinaus irgendetwas zu erwarten.

      Der Notar hielt einen großen Umschlag in der Hand, dessen Siegel er öffnete, um das Testament des Verstorbenen zu verkünden.

      „Geehrte Anwesende, ich verlese Ihnen jetzt Eduard Claaßens Letzten Willen, wie er ihn am 12. November 1970 notariell protokollieren ließ und unterzeichnete.“

      Bettina und Bernd warfen sich Blicke zu, die nicht übereinstimmen wollten. In Bettinas Augen lagen Vertrauen und Zuversicht, in Bernds Augen dagegen Skepsis und eine dunkle Vorahnung, denn sein Verhältnis zu dem Verstorbenen war stets von Spannungen überschattet gewesen.

      Der Notar räusperte sich kurz und begann, vorzulesen.

      „Ich, Eduard Claaßen, erkläre meinen Letzten Willen wie folgt: Meiner Ehefrau Bettina Claaßen verbleibt in voller Höhe ihr Anteil an unserem gemeinsamen Vermögen, wie sie es zum Teil miterwirtschaftete, zum Teil durch die Erbschaft ihres Vaters einbrachte und mir anvertraute und sie es von mir verwalten und anlegen ließ. Ihr verbleiben weiterhin fünfzig Prozent meines Vermögens, das ich in Immobilien, Aktien und sonstige Anlagen investiert habe. Die anderen fünfzig Prozent der Anlagenwerte, die ich nachfolgend detailliert aufliste, hinterlasse ich Pierre Desmoulins, ansässig in Paris, zu seiner freien Verfügung. Seine persönlichen Daten und sein Wohnsitz sind dem Notar bekannt, der Vollmacht hat, die Übertragungen zu veranlassen.“

      Bettina blieb die Luft weg. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie war wie paralysiert. Ganz im Gegensatz zu Bernd, der von seinem Sitz aufgesprungen war und dessen Stimme sich überschlug.

      „Pierre Desmoulins … das ist der Kerl, der mit der verheulten Alten auf dem Friedhof herumstand. Das stinkt doch zum Himmel!“

      Er funkelte Bettina zornig an, die unfähig war, sofort auf das zu reagieren, was mit einem Mal auf sie einstürmte.

      „Und du hast die beiden für Gespenster gehalten! Ich bin gespannt, was da noch an Knalleffekten kommt.“

      Bettina war Bernds Benehmen vor den Augen und Ohren des Notars peinlich. Sie hatte schon immer die cholerische Veranlagung ihres Bruders missbilligt, der im Zustand inneren Aufruhrs schnell die Kontrolle verlor und sich zu den wüstesten Beschimpfungen hinreißen ließ. Als die Ältere hatte sie Einfluss auf Bernd, und oft gelang es ihr, ihn zur Vernunft zu bringen, ehe er mit unbedachten Worten irreparablen Schaden anrichten konnte. Sie warf ihm einen tadelnden Blick zu und zog ihn stumm am Saum seines Jacketts auf seinen Sitz zurück.

      Auch in der Miene des Notars stand Missbilligung zu lesen.

      „Können wir jetzt fortfahren, Herr Busse?“

      Bernd schwieg, aber Bettina nickte dem Notar zu. Er las weiter vor.

      „Meinem Schwager Bernd Busse soll von meinem Barvermögen eine einmalige Abfindung von zwanzigtausend D-Mark zugestanden werden. Seine monatlichen Zuwendungen entfallen mit sofortiger Wirkung.“

      Bernd brauste erneut auf. Er schäumte jetzt vor Wut und sah keine Veranlassung mehr, sich länger zurückzuhalten.

      „Da haben wir’s. Jetzt kommt ans Tageslicht, wie der Banause wirklich über mich dachte, über den unnützen Künstler, den er sich mit ans Bein gebunden hatte, als er dich heiratete.“

      Bettina war über Bernds Entgleisung wie vor den Kopf gestoßen. Wie konnte er so respektlos über Eduard sprechen, der ihm Monat für Monat eine Summe überweisen ließ, die ihn vor den Entbehrungen bewahrte, die seine Künstlerkollegen in Berlin durchlitten und denen er dank Eduards Großzügigkeit in ihrer größten Not unter die Arme greifen konnte? Zuerst war sie geneigt, Bernd scharf zurechtzuweisen, zwang sich dann aber, ruhig zu bleiben. Sie wollte sich vor dem Notar auf keine Debatte mit ihrem Bruder einlassen, die nur in einen Streit gemündet wäre. Deshalb versuchte sie es im Guten.

      „Reiß dich zusammen, Bernd. Vergiss nicht, wer du bist.“

      Doch Bernd ließ sich nicht zügeln.

      „Wer bin ich denn schon? Der Versager, die kleine Wurst, der Pinselschwinger einer brotlosen Kunst, den dein Göttergatte dir zuliebe aushielt, obwohl ihn Malerei nie