Vicky Lines

Ankunft ohne Wiederkehr - Teil 1


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geht. Hab noch einen schönen Tag, ja?“, verabschiedete er mich und ging auf den leeren Platz gegenüber der beiden Frauen zu.

      Schnell verließ ich die Station Westminster und lief auf mein Büro zu. Jeden Morgen von der kalten Insel in die brütende Hölle des Parliaments. Es interessierte mich heute aber nicht. Früher verdrängte ich die Sorgen, sobald ich in meinem Büro eintraf. Moment, was hatte Jason mir eben beim Abschied gesagt? Er wäre der, dem es am besten ginge? Was sollte das heißen?

      Kaum war ich in meinem Büro eingetroffen, begannen die Intrigen und Ränke auf mich einzuprasseln. Früher mochte ich es doch, Intrigen aufzudecken, meine Position zu vertreten und falsche Ansichten und Fehler zu bekämpfen. Hinzukam, ich redete mir ein, mit meinen Kompromissen diese Welt friedlicher und gerechter zu gestalten. Gerecht? Was war in dieser Welt schon gerecht? Müde, ich war einfach müde von meinem Leben. Hoffnungslos erschöpft von all den Grabenkämpfen ohne jede Vision. Mir war auch klar, dass der Brexit einfach nur falsch war. Total falsch.

      Die wussten gar nicht, wie schlimm es ist, ohne Freunde bestehen zu müssen. Bevor ich darüber nachdachte, wem ich was offenbarte, versuchte ich auf der Toilette, meine Gedanken zu ordnen. Jason hatte mir mitgeteilt, dass? Mein Magen drehte sich. War ich wirklich so abgestumpft, dass ich die Probleme von Jennifer und Olivia nicht mehr wahrnahm? Mir entglitt mein Leben, meine Aufgabe als Vater, meine Familie? Das darf ich nicht zulassen. Mein privates Smartphone piepste. Meine Mutter fragte nach meinen Unternehmungen am Wochenende. Das auch noch.

      Genervt stand ich auf, schaltete das Smartphone aus und kehrte in mein Büro zurück. Meine Liste der zu erledigenden Arbeiten war lang. Heute wollte ich früher nach Hause. Wollte? Ich musste! Die geweckten Sorgen um meine Töchter begannen in mir, an meinen Nerven zu nagen. Also setzte ich mir Ziele, die ich bis zum Mittag erledigt haben wollte. Leidlich kam ich voran, denn diese so geliebte Bürokratie kniff mich, zwickte meine Nerven und schlug immer wieder auf meinen Kopf. Genug, ich würde gleich Essen gehen. Obwohl, ein Sandwich sollte es auch tun. Und siehe da, mein gesetztes minimales Pensum hakte ich zufrieden ab. Nachdenklich stand ich auf und entschied mich für einen der Sandwichläden. Bloß keinem Kollegen oder Mitarbeiter begegnen. Nahm meine Jacke und schaute nur kurz bei meiner Assistentin hinein, die wirklich eine Assistentin war, keine Sekretärin. Jedoch mein Angebot, ihr etwas mitzubringen, lehnte sie erstaunt und sehr freundlich lächelnd ab. Wie lange saß sie schon dort? Bestimmt vier Jahre. Mindestens. Nichts wusste ich über sie, gar nichts. Es gab nur zwei wichtige Pfeiler, meine Familie und meine Arbeit.

      Als ich hinaustrat, holte ich tief Luft, um mir zu beweisen, dass ich doch kein Zombie war. Dann fiel mir der Pret-A-Manger-Laden in der Tothill Street ein. Zu Fuß genau die richtige Entfernung. Und in so einem „Schuppen“ begegnete ich höchstens meiner Assistentin aber keinem der anderen hochtrabend faselnden Herren des Hauses. Nie kam ich mir unnütz vor, heute irgendwie schon. Meine Töchter. Was mag mit ihnen los sein? Ablenken, mit der Überlegung, was ich mir wohl kaufen würde.

      Ein Tee – Darjeeling – wäre toll. Mich fröstelte, weil ich Idiot Sommerklamotten angezogen hatte. Dann bevorzuge ich heute eine Suppe. Immer noch nicht angekommen, sah ich den Verkehr und wäre beinah in einen Fahrradfahrer hinein gelaufen. Erst setzte der zu einer Schimpftirade an, dann erschreckte ihn anscheinend mein Gesicht. Darum machte ich mir schon lange keine Gedanken mehr. Gleich war ich da, wieder einen Punkt heute geschafft.

      Die Flucht zurück

       Die Flucht zurück

       Samantha Willer, Berlin-London, September 2015, Freitag

      Als ich gestern endlich meinen Platz im Flieger gefunden hatte, die 14 E hatte ich ausgewählt, begann ich, mich zu entspannen. Dieses Familientreffen nach meinem sehr kurzen Arbeitstag fing erwartet anstrengend an, als mein Vater wieder einmal auf mir herumhackte.

      „Guten Tag, kinderlose Tochter. Wie sieht dein Liebesleben aus, endlich fündig geworden?“, nervte er gleich los.

      Wie immer bei diesen Nachfragen und Bemerkungen überdachte ich meine Entscheidung, mein Geheimnis meinen Eltern immer noch nicht zu offenbaren. Denn, was er und Mutter nur nicht wussten, war der Umstand, dass ich ihnen nicht erzählt hatte, keine Kinder gebären zu können. Meine Operation, die diesen Umstand auf Grund einer früheren Begebenheit notwendig machte, verkaufte ich damals als Urlaubsreise nach München. Also eine Lüge in einer Wahrheit verpackt. In dieser Zeit waren meine Eltern so sehr mit meiner Schwester, deren Heirat und der Geburt ihres Kindes beschäftigt, dass ich diese positiven Ereignisse nicht durch meine negativen Erlebnisse trüben wollte. Mein Vater fand meine Berufswahl schon abartig, da wollte ich nicht noch den Eindruck erwecken, dass ich unbedingt im Mittelpunkt stehen wollte. Allerdings tröstete mich meine Schwester, nachdem ich ihr meine Unvollkommenheit gebeichtet hatte, vier Jahre nach der Diagnose. Sie verstand mich seitdem viel besser, als ich mir die Reaktion ihrerseits eingeredet hatte. Liebevoll bedachte sie mich immer mit dem Hinweis, mir beizustehen.

      Ihre beiden Söhne liebte ich sehr. Der ältere, zwölf Jahre, fragte mich immer wieder nach meinen Kenntnissen in der Informatik aus, während der vier Jahre jüngere meine Vorliebe für Science-Fiction-Literatur teilte. Wie sehr meine Schwester mir vertraute und mich liebte, bewies sie immer wieder, da sie mir die Kinder auch ohne Grund für ein Wochenende überließ. Nach solchen Wochenenden regte sie sich hin und wieder auf, weil ich die kleinen Racker zu sehr verwöhnte. Meine Mutter, die diese Hasstiraden nicht mehr ertragen konnte, wurde plötzlich sehr laut und energisch. Ganz die Lehrerin, wies sie meinen Vater zurecht, dass er doch bitteschön seine Meinung für sich behalten dürfe, denn heute wäre ein freudiger Tag. Mich beeindruckte diese resolute Zurechtweisung zu meinen Gunsten. Nach diesem Statement sprach mein Vater kein einziges Wort mehr mit mir, nur die Verabschiedung nötigte ihm ein „Hab viel Spaß“ ab.

      Als ich endlich das Haus verließ, nahm ich einfach ein Taxi, denn ich hatte keine Lust, mich durch die Stadt per Bus und Bahn zu quälen. Dreimal Umsteigen brauchte ich nicht auch noch zu ertragen. In meiner schwarzen Röhrenjeans, der weißen Bluse und dem hellgrünen Parka fühlte ich mich für eine Reise gut gerüstet. Das Kuvert von meiner Mutter und meiner Schwester – vielleicht auch meinem Vater – offenbarte mir auf dem Flughafen zwei Gutscheine für den Tower of London und den Eintritt zur Saint Paul‘s Cathedral. Das fand ich wirklich lieb. Endlich startete das Flugzeug. Von meinem Sitzplatz sah ich hinaus und nahm Abschied von meiner Heimatstadt und meinem Alltagsleben.

      Der Herr neben mir schien etwas Flugangst zu haben. Nicht einmal voll besetzt, hoben wir Richtung Westen ab. Das Wetter schob Wolken zwischen die Flugzeugfenster und den Erdboden, deshalb bestaunte ich noch die puderzuckerweißen Wolkenformationen einige Momente und versuchte dann, einfach vor mich hin zu dösen. Dann wurde ich von einer vibrierenden Stimme aus dem Off gefragt, ob ich denn nicht gerne in die puderzuckerweißen Fluten springen wolle. Seltsam. Aber nett. Anscheinend war ich sogar eingeschlafen, denn plötzlich kam die Durchsage, wir würden uns im Landeanflug auf London befinden.

      Aus dem Fenster blickend sah ich? Genau! Wolken. Welche unglaublich einfach vorhersehbare Überraschung. Egal, weg von dem drögen Alltag, den unzähligen Hürden und langweiligen Wiederholungen. Weg vom nörgelnden Vater, dem unzumutbaren Chef und meinen vier Wänden. Selbst bei Schnee käme ich nicht umhin, mich mal anderweitig umzusehen. Bei der Landung glotzte ich wie gebannt aus dem Fenster. Dann die elend langen Gänge und der Zoll. Nun drängte mich die Neugier nach der Tube. Ich holte mir ganz vorsichtig, wie eine Hummel eine unbekannte Blume ausprobieren würde, so eine Oystercard. Na bitte, klappte doch.

      Als ich eine Stunde später mein Hotel betrat, welches nördlich des Hyde Parks lag, merkte ich eine furchtbar schnell aufkommende Müdigkeit. Von außen sah das Hotel mit der viktorianischen Fassade merkwürdig aus. Ein kleines Einbettzimmer beherbergte für mich die gesuchte Liege, das Bad ähnelte meinem und der Ausblick ließ sich ertragen. Mein Magen knurrte. Deshalb die frühe Müdigkeit. Kurz vor dem Abflug sandte mir meine liebe Kollegin Maren noch eine Mail, um mir den Urlaub noch schöner zu reden.

      Doch nun? Noch mal raus hier. Es regnete. Klar doch. Entschlossen ging ich noch kurz auf die Jagd nach etwas Essbarem und Getränke für morgen benötigte ich ebenfalls. Erschöpft sank ich gegen neun