Das ist ein Volk", sagte er, "wie eine Schlange." Dem konnte Jan sich nicht anschließen, da er sich mit dem Gedanken herumtrug, schon bald das Studium der Bohemistik an den Nagel zu hängen und sich statt dessen im viel aufregenderem Fach, so dachte er, der Japanologie einzuschreiben.
.“Warum hast du einen Bart?“ fragte Ivan ihn irgendwann.
Jan war um eine Antwort verlegen; ihm schwebten Bilder von vollbärtigen rusischen Leibeigenen vor.
.“Trägt man bei euch keine Bärte mehr?“
“Nein. Das ist rückständig. Wir sind jetzt wie die Amerikaner, ohne Bart. Und ins Weltall
fliegen wir auch!“ Ivans Stolz war nicht zu bremsen, doch das Gespräch stockte plötzlich, es fehlte an Themen.
"Und wie fühlt ihr euch bei uns? " fragte Jan, bevor sie gingen.
"Wie zu Hause!“
Nachdem die Russen weg waren, blieb er noch eine Weile bei seinem Wodka sitzen. Enttäuscht sinnierte er über die slawische Melancholie, von der sein Russischlehrer
manchmal sprach. Die sibirjaci hatten keine Spur davon.
Der besagte Lehrer war übrigens ein hervorragender Russist und Kenner der russischen Literatur, die er liebte. Dostojewski, Gogol, Lermontov...ja vor allem war es Lermontovs Poesie, die er versuchte, seinen nicht an Poesie sondern am Fußball interessierten Schülern nahezubringen.
Anstatt russische Gramatik zu erklären, setzte er sich in der Klasse hin und las Lermontovs Gedichte vor:
.... ..weiß schimmert das einsame Segel in des Meeres blauem Dunst....
Und so weiter. Hinterher hatte man über Lermontovs kurzes Leben gesprochen. Zarensoldat im russischen Kaukasuskrieg war er, Gedichte geschrieben, sich wegen einer Frau duelliert und im Duell gestorben.
Ein echter Russe!
Der Russischlehrer war übrigens parteilos und aus diesen und jenen Gründen wollte die Schulleitung ihn loswerden, was irgendwann auch geschah. Gerüchte über seine Neigung zum Glücksspiel gingen um, es hieß, er wäre ein Zocker.
Er verlor seine Stelle, seine Wohnung, seine Frau, zog in eine kleine Dachkammer und es war unklar, wovon er eigentlich lebte. Mit dreiunddreißig Jahren starb er an Krebs.
Später forschte Jan auf eigene Faust über Lermontov nach und fand heraus, dass seine Vorfahren nach Russland ausgewanderte, schottische Adelige waren und Lermont hießen.
4 Die Braut
Gegen Ende des Wonnemonats Mai wurde es in Prag vorsommerlich warm. In den pittoresken barocken Kirchen, fanden nun nicht nur Maimessen - diese, so wie die gesamte römisch - katholische Kirche waren damals geradeso halbherzig geduldet -, sondern mitunter auch Maikonzerte statt. In diesem besonderen Ambiente kam insbesondere klassische Barockmusik gut an: Bach, Händel, Telemann, Vivaldi.
Die Kirchen waren voll - nicht nur von Touristen auf der Jagd nach sehens- und- hörenswürdigen musikalischen Attraktionen - auch viele einheimische Musikliebhaber waren dabei. Die Tschechen sind ein musikalisches Volk.
In den Prager Stadtgärten - nun voll von blühenden Büschen und Bäumen - wurden Konzerte unter freiem Himmel veranstaltet; für Jan, dem dierMusik viel bedeutete, ein guter Grund für ausgedehnte Spaziergänge im Grünen mit musikalischem Hintergrund. Angeboten wurden meist als Kammermusik arrangierte, leichtere Operettenstücke der klassischen oder späten Romantik: Brahms, Mozart, Verdi.
Die Vorführungen fanden auf gelegentlich mit Blumen geschmückten Freibühnen statt, die genug Platz für ein Quartett mit Sänger oder Sängerin boten.
Einmal gelang es Jan einen Sitzplat direkt in der ersten Reihe vor der Konzertbühne zu erlangen; an jenem Nachmittag wurden im Wallensteiner Palaisgarten ausgewählte Operettenarien angeboten, vorgetragen von angehenden Absolventen des Prager Konservatoriums. Die Veranstaltung galt als nur halbprofessionell, der Eintritt war frei.
Die blonde Sängerin, die direkt vor ihm auf der Bühne stand und ihm bekannt vorkam, suchte unentwegt seinen Blickkontakt und schien nur für ihn zu singen. Ihr Glanzstück war eine bekannte Arie aus der Traviata von Verdi. Sie war eine gute Sopranistin, aber in den höheren Stimmlagen etwas unsicher, - was wohl keinem der Zuhörer auffiel, außer Jan. Mit einem Ausdruck von Zuversicht lächelte er sie an.
Nach Ende der Veranstaltung stand sie da mit einem Blumenstrauß in der Hand, den ihr wohl ein anonymer Bewunderer aus dem Publikum hatte zukommen lassen.
Jan, so wie einige andere, ging auf sie zu. Sie reichte ihm etwas förmlich die Hand, wohl um sich für die Blumen zu bedanken. Es war ein bunt gemischter Blumenstrauß, in dem die klassischen, roten Rosen überwogen.
"Wir kennen uns doch!"
Jan überlegte. Das gekonnt à la Marilyn Monroe geschminkte Gesicht, die üppige, blonde Haarpracht und die Lachgrübchen um den Mund kamen ihm zwar bekannt vor, doch er wusste nicht warum. Hatte er sie vorher schon gesehen? Wann? Und wo?
"Bei den Hells Angels singe ich nicht mehr."
Es war Ella, das Mädchen aus der Straßenbahn und Theologiestudentin. Jetzt erinnerte er sich plötzlich an alles, an das kurze Gespräch in der alten Trambahn, die Begegnung mit der Band. Doch seitdem war einige Zeit vergangen, in der viel passiert war - und sein musikalisches Interesse am Mitspielen in einer Prager Rockband, hielt sich jetzt in Grenzen.
"Der Blumenstrauß ist nicht von mir", sagte er.
Sie lachte - etwas gezwungen. Jan fiel ihre hohe Sopranstimme dadurch besonders auf.
"Ich weiß, von wem er ist."
"Ein schöner, reicher Blumenstrauß.."
"Von wem ist er?"
Ihre zierliche Hand mit langen, farblos lackierten Fingernägeln strich gleichgültig über die noch nicht ganz aufgegangenen Rosenknospen.
"Von Jeremias."
"Jerry?" Jan erinnerte sich an das nichtssagende Gesicht des Jungmanagers der Hells Angels.
"Ja. Jetzt hat er für sein Konzert in der Spiegelkapelle im Klementinum eine aus London eingeflogene Sängerin engagiert und hat wohl ein schlechtes Gewissen."
Jan kam sich verdutzt vor und die Gleichgültigkeit mit der sie ihm, den sie kaum kannte, dieses erzählte, überraschte ihn.
"Engländerinnen sind in Prag eine Seltenheit. Hat sie etwas Besonderes an sich oder hat Jerry deine Stimmlage nicht mehr gepasst?"
Ella streichelte nachdenklich die Blumenknospen.
"Eigentlich ist Ivana aus Prag, ist aber von ihren jüdischen Zieheltern in London großgezogen worden. Jetzt pendelt sie zwischen London und Prag. Ihr Englisch ist akzentfrei und obwohl sie mehr mit dem Körper als mit der Stimme singt, kommt sie als britisches Showgirl bei den Leuten hier gut an. Besser als ich", erklärte sie. Die Stimme klang emotionslos, zwischendurch kicherte sie sogar.
"Außerdem gefällt mir die moderne Pop - Musik aus England nicht wirklich. Mir gefällt Gospelmusik, die passt zur Kirchenakustik viel besser als sein Kuschelrock", sagte sie kritisch
"Ja", sagte Jan, "tanzen soll man in den Kirchen nicht."
"Nicht in der Spiegelkapelle des Klementinums."
"Wird das Rockonzert dort stattfinden?"
"Ja, wenn nichts dazwischen kommt."
Sie schritten beide langsam zum großen Ausgangstor des Wallenstein - Palais auf einem der mit weißem Kieselstein bestreuten Fußwege, an blühenden Gartenbüschen vorbei. Ellas Stöckelschuhe mit hohen Absätzen blieben dann und wann im Boden stecken.
"Darf ich mich bei dir