Moment an Entschlossenheit, der Masse die nötige Parole zu geben, dann bemächtigt sich ihrer unvermeidlich eine gewisse Enttäuschung, der Elan verschwindet, und die Aktion bricht in sich zusammen.“
Nach Beginn des Ersten Weltkriegs sah Luxemburg dieses dialektische Verhältnis
noch enger gefasst. 1918 erkannte sie die wesentliche Schwierigkeit im Kampf für eine sozialistische Lösung „im Proletariat selbst, in seiner Unreife, vielmehr in der Unreife seiner Führer, der sozialistischen Parteien.“
Rosa Luxemburgs Positionen müssen im Zusammenhang mit ihrer - von Friedrich Engels übernommenen - Analyse gesehen werden, es gehe um „Sozialismus oder Barbarei“. Sie betonte unermüdlich und in Widerspruch zur sozialdemokratischen Führung, dass es kein Hinüberwachsen in einen Sozialismus geben würde, dass es
der bewussten, revolutionären Massenaktion bedürfe, um die Barbarei zu vermeiden
und den Sozialismus zu ermöglichen und dass die Hauptverantwortung der Sozialdemokratie darin liege, hier treibendes Moment zu sein, in Massenaktionen mit der revolutionären, emanzipativen Zielsetzung einzugreifen.
Und heute? Gibt es Nutzanwendungen für unser heutiges Engagement? Wie ist der
scheinbare Widerspruch zwischen „Massenspontanität“ und „Parteidisziplin“ zu debattieren bzw. aufzulösen? Dazu in der gebotenen Kürze eine Antwort auf drei Ebenen:
Die Losung „Sozialismus oder Barbarei“ ist heute mehr denn je gültig, wobei wir für jede Debatte über die Begrifflichkeit „sozialistisch“ offen sein sollten. Mehr noch als vor und im Ersten Weltkrieg weist die Logik des Kapitals, der Konkurrenz und des Marktes in die Richtung Barbarei. Angesichts der sich weiter drehenden Rüstungsspirale gilt nach wie vor: „Nach Rüstung kommt Krieg“. Der Golfkrieg 1990/91 war nur ein Vorspiel, und die Bundeswehr vor Ort auf dem Balkan ist nur die Generalprobe.
Was Rosa Luxemburg kaum wissen konnte, ist die Komplettierung der Gefahr einer Barbarei durch die selbstmörderische Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte
und die Gefahren ökologischer Katastrophen. Angesichts von Massenelend im Süden, neuen Kriegen in der Dritten Welt, neuer Sklaverei, Sex-Tourismus, Müll-Tourismus, Gentechnik usw. ist es mehr als gerechtfertigt, Rosa Luxemburgs Worte, gesprochen inmitten des Ersten Weltkrieges, auch für heute als zutreffend oder prophetisch zu bezeichnen: „Geschändet, entehrt, im Blute watend, voll Schmutz triefend - so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit - so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.“
Natürlich sind heute Massenaktionen geringer entwickelt als Anfang des 20. Jahrhunderts.
Gleichzeitig sind wir geneigt, solche weit weniger wahrzunehmen und zu analysieren. Sowohl bei den Streiks gegen die Reduzierung der Lohnfortzahlung in Deutschland als auch bei den Kämpfen gegen Entlassungen und die Verschlechterung der Sozialsysteme in Frankreich handelte es sich um Massenaktionen, bei denen auch Teilerfolge erzielt wurden.
Interessant und wichtig ist dabei auch, dass diejenigen, die in diese Massenkämpfe eintraten, sich - wie Luxemburg für ihre Zeit analysierte - während dieser Kämpfe radikalisierten, ihr Bewusstsein erweiterten. Eine Debatte um „Parteidisziplin“ oder um „revolutionäre Organisierung“ stellt sich heute kaum. Die LINKE ist keinesfalls eine revolutionäre Partei im Sinne Luxemburgs. Sehr zum Bedauern von deren ehemaligen Fraktionsführerin im Bundestag, Sarah Wagenknecht. Bliebe ganz allgemein die Organisationsfrage.
Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass ich diese Frage nicht sehe. Die diversen linken, radikalen organisierenden Ansätze befinden sich eher auf dem Rückzug.
Wir müssen derzeit froh sein, wenn das Potential, das auf „revolvere“, auf ein umwälzen der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse setzt und das es heute zweifellos in deutschen Landen - im autonomen Spektrum, in der PDS und um diese,
in Betrieben, Büros, Gewerkschaften gibt und das weiterhin nach Hunderttausenden
Menschen zählt - weiterhin existent bleibt und weiterhin punktuell durch die eine und
andere revolutionäre Initiative erreicht wird.
Vor diesem Hintergrund gewinnt natürlich auch das Verhältnis von parlamentarische
Aktivitäten und außerparlamentarischer Aktion eine besondere Bedeutung. Auch hier
wird vielfach Rosa Luxemburg falsch vereinnahmt - im Sinne einer ultralinken Kritik
des Parlamentarismus. Zwar warf Luxemburg dem sozialdemokratischen Theoretiker
des Reformismus, Bernstein, vor, den „Hühnerstall“ des bürgerlichen Parlaments für
das berufene Organ zu halten, wodurch die gewaltigste weltgeschichtliche Umwälzung: die Überführung der Gesellschaft aus den kapitalistischen in sozialistische Formen, vollzogen werden solle. Gleichzeitig aber plädierte sie vehement dafür, in just diesem „Hühnerstall“ als Revolutionäre präsent und aktiv zu sein - was der zusammen mit ihr ermordete Kampfgenosse Karl Liebknecht auch mit „revolutionärer Professionalität“ und just damit die Reaktion zur Weißglut reizend, betrieb.
Luxemburg untermauerte diese Dialektik des Spannungsverhältnisses „parlamentarisches Engagement“ und „außerparlamentarische Massenaktion“ folgendermaßen: „Bei dem ruhigen, >normalen< Gang der bürgerlichen Gesellschaft wird der politische Kampf nicht durch die Masse selbst in einer politischen Aktion geführt, sondern, den Formen des bürgerlichen Staates entsprechend, auf repräsentativem Weg (...) Sobald eine Periode revolutionärer Kämpfe eintritt, d. h. sobald die Masse auf dem Kampfplatz erscheint, fällt die indirekte parlamentarische Form des politischen Kampfes weg.“
Schließlich erscheint eine „Nutzanwendung“ von Rosa Luxemburgs Gedanken darin zu bestehen, sich für sozialistische Demokratie und gegen Schreibtisch-Strategie einzusetzen. Luxemburg wandte sich gegen alle „fertigen Revolutionskonzepte“, auch gegen solche ihrer Freunde Lenin und Trotzki. So schrieb sie kurz nach der Oktoberrevolution, mit der sie sich voll solidarisch erklärte.
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