Monica Maier

Nicht alle sehen gleich aus


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kam sie ihm so nahe, dass sie eine große Narbe auf seiner Stirn bemerkte. Er lächelte und sie musste an Folter denken. Ein leichter Schauer fuhr ihr den Rücken hinunter. Nach dem Überqueren der Straße im sonnigen Tageslicht stand Annika ein paar Minuten später direkt vor dem Eingang ihres Arbeitgebers. Sie sah nicht, dass der junge Mann auch ausstieg, hinter ihr den U-Bahnhof entlang- und die Treppen hochging.

      Ohne Bildung geht nichts

      Vor dem Bildungsträger „OBGN“ („Ohne Bildung geht nichts“) traf sie auf den 23-jährigen Pakistani Ali, der mit seinen Eltern und Geschwistern seit einem Jahr in Berlin lebte und bei ihr schon in der fortgeschrittenen B2-Klasse saß. Die Niveaus reichten von A1, A2 der Anfänger über B1, B2 bis zu den Besten mit C1 und C2. Er zog hektisch an seinem Glimmstängel und stieß sofort eine Rauchwolke aus, und das ohne Frühstück. Aber trotzdem erkannte er sie durch die Rauchschwaden und grüßte höflich: „Guten Morgen, Frau Annika, wie geht’s dir?“

      „Danke, gut, und dir? Frau Leone oder Annika, du musst dich entscheiden“, erwiderte sie voller Energie, während sie genug Abstand hielt, um den Tabak nicht ins Gesicht zu bekommen. Sein auf der linken Wange vernarbtes Gesicht fiel ihr wieder auf. Es stammte von einer Bombe, wie er in der Klasse einmal erzählt hatte.

      „Ich auch gut, Annika. Wie war Urlaub?“ meinte er.

      „Danke, sehr schön, wenn auch etwas abenteuerlich, und bei dir? Wie war die letzte Woche?“, fragte sie.

      Ali drückte die Zigarette jetzt mit seinem Turnschuh aus und sagte: „Alles in Ordnung. Meine Eltern haben neue Wohnung, wir sind nicht mehr in Heim. Und meine zukünftige Frau kommt nächste Monat aus Türkei, sie hat Visum, ich bin zu viel froh.“

      „Endlich“, freute sie sich für ihn und den Familiennachzug, den er schon vor mehreren Monaten beantragt hatte. Er war wirklich ein lieber und freundlicher Kerl, dachte sie und wunderte sich schmunzelnd, dass er nicht wie sonst Verlobte sagte, die Vokabel von der zukünftigen Frau musste er sich neu bei Sibylle zugelegt haben. Die hatte sie vertreten, während sie in Marokko gewesen war. Im liberalen Berlin konnte man Lebensabschnittspartnerin meinen, aber für ihn war es wegen seiner traditionellen Erziehung sicher die Liebe seines Lebens. Das andere neudeutsche L-Wort „Leitkultur“ gefiel ihr noch weniger. All diese Willkommenskultur und Leitkultur würde in ihren Ohren wie Leithammel klingen, hatte einmal eine Schülerin zu ihr gemeint.

      „Mein Problem immer noch die Deklination und schreiben!“, sagte Ali. Wie viele deutsche Schüler war er lieber mit dem Handy und Chatten als mit wahrer Textproduktion beschäftigt. Als ob ihr das jetzt neu wäre, er brauchte gar nicht so zu tun, dachte sie.

      „Ich weiß. Nur Übung macht den Meister, du musst mehr schreiben, Sprache lernt man durch Sprechen und Schreiben durch Schreiben, Ali!“, ermunterte sie ihn schon zum x-ten Mal. Wenn er nachher wieder zu unkonzentriert im Unterricht sitzen würde und am Smartphone mit seiner Freundin, besser gesagt Verlobten oder vielmehr seiner zukünftigen Frau, chattete. Dann sollte sie ihm diesmal das Handy wirklich wegnehmen! Er lag ihr am Herzen und erst recht wollte sie, dass er es mit dem Deutschen endlich schaffte, weil er bisher eigentlich relativ fleißig war. Klar, er hatte eindeutige Konzentrationsschwächen, vielleicht schon als Kind, und er war leider mit seinem Smartphone verheiratet, ihre Meinung! Leider gehörte er zu denjenigen Teilnehmern, die nicht aus einem schul- und lerngewohnten Umfeld stammten. Das bremste seine Motivation und Durchhaltekraft beim Lernen.

      „Wie’s aussieht, hast du neue Vokabeln gelernt: zukünftige Frau!“, sagte sie. Er lachte stolz und Annika wandte sich mit einem: „Herzlichen Glückwunsch, dann bis gleich im Klassenzimmer, ich muss noch was erledigen!“ dem Gebäude zu, während der aus Syrien stammende Ahmed sich mit zwei Coffees to go langsam näherte. Einen davon reichte er Ali und zückte dann mit einem an seine Lehrerin gerichteten „Guten Morgen“ seine Zigarettenschachtel. Neben der Schule gab es eine Bäckerei, die das Geschäft ihres Lebens machte, seitdem hier seit 2015 so viele Deutschkurse stattfanden. Sie hasste Rauchen und verabschiedete sich noch rascher, warf ihm aber schnell ein freundliches „Hallo!“ zu. Plötzlich sah sie den jungen Mann aus der U-Bahn aus dem Augenwinkel mit einem Mädchen vor dem Gebäude zusammenstehen. Die beiden hatten eine etwas lautstarke Auseinandersetzung in einer fremden Sprache und Annika wunderte sich, weil sie ihn hier zuvor noch nie bemerkt hatte.

      Hinter der Glastür am Aufzug gab es in dem Haus aus den 50er-Jahren, dem ein neuer Innenanstrich wirklich guttun würde, schon eine Schlange von Schülern und Angestellten, die in Büros im Gebäude arbeiteten. Sie nahm deshalb lieber die Treppe und spürte beim Hinaufsteigen noch die Müdigkeit von der langen Reise am Vortag in den Beinen. Zum Glück hatte sie ihre bequemen Schuhe an. Als sportlicher Typ nahm sie auch jetzt am Morgen die Gelegenheit wahr, ein paar Gramm der leckeren marokkanischen Küche in der Bauchgegend wieder zu verlieren.

      Auf der ersten Etage im Lehrerzimmer saßen bereits zwei ihrer Kolleginnen, darunter auch Sibylle, die sie im Urlaub vertreten hatte und gerade etwas für ihren Integrationskurs vorbereitete. Es gab vier Computerarbeitsplätze, einen großen Tisch in der Mitte und einen Kopierer. Die Uhr an der Wand zeigte auf Punkt 8 Uhr.

      „Guten Morgen!“, begrüßte Annika die beiden, als sie den Raum betrat, der zu dieser Uhrzeit gerade von der Sonne durchleuchtet wurde. Nach dem Wochenende wirkte er dazu noch aufgeräumt und sauber geputzt. Der Ansturm der Kursteilnehmer und 20 Lehrkräfte ließ sicher nicht lange auf sich warten, daher konnte man hier früh noch die Ruhe genießen.

      „Hallo, Morjen! Wieder zurück aus der Sonne?“, drehte sich die gut gelaunte Berlinerin auf dem Stuhl ihr zu und meinte: „Haste am Freitag meine Überjabemail bekommen?“

      „Ja, vielen Dank, ihr habt im Buch den letzten Teil von Kapitel 4 ganz geschafft und auch schon für die B2-Prüfung geübt, stimmt’s? Vielen Dank nochmal für die Vertretung, ich revanchiere mich! Der Urlaub war ganz toll, wenn das mit dem Opferfest und dem Schlachten auch etwas grausam war, hast du ja vielleicht auf meinen Postings mitbekommen?!“ Annika schaute sie lächelnd an.

      „Natürlich! Hab ick jesehn, haste dich trotzdem jut erholen können? Wat war n dit für ne Bootsjeschichte?“, meinte Sybille interessiert.

      „Erzähl ich dir später, vielleicht essen wir gemeinsam zu Mittag? Beim Asiaten?“, schlug Annika ihr ernster werdend vor. „Ich muss noch einiges kopieren.“

      „Okay, dit machn war!“ Sybille beschäftigte sich wieder mit ihrer Vorbereitung am Computer und Annika ging an den Kopierer, während sie gleichzeitig das Kursbuch aus ihrer Tasche holte. Gleich würden all die anderen Dozenten antanzen und dann würde es eng am Gerät werden.

      „Guten Morgen!“, hörte man Martin Kusow sagen, der sich als Nächster einfand. „Was haltet ihr eigentlich von dem neuen Lehrwerk für A1? Die bringen seit 2015 eins nach dem andern raus“, fragte er schon in die Runde.

      Sibylle blickte ihn an und erwiderte in ihrem Westberliner Slang: „Na, Morjen, du Quoten-Mann, wie war dein Wochenende?“ Frauen waren in diesem Beruf eindeutig in der Überzahl.

      „Ruhig, viel geschlafen“, antwortete er.

      Sie fuhr fort: „Mir sind dit zu wenije zusammenhängende Texte und die Fotojeschichte find’ ick eher varwirr’nd für Leute aus nem janz andern Kulturkreis, aber die Progression is jut! Du weeßt doch, dit einzich richtije Buch jibs nich, und mein Lieblingsbuch für totale Anfänger, hmm, hat numal veraltete Zeichnungen. Musste eben wat dazukopieren aus andern Büchern, is ja immer so.“

      Martin nickte, aber erst einmal musste er in seinem A1-Anfänger-Integrationskurs damit arbeiten, das würde schon gutgehen, sagte er. Der 37-jährige bis dahin lang arbeitslose Historiker hatte vor sechs Monaten als Quereinsteiger die verkürzte Zusatzqualifikation des Bundesamts für Migration abgeschlossen, um als Dozent hier arbeiten zu dürfen. Und da Latein im Gymnasium eines seiner Lieblingsfächer gewesen war, fühlten sich für ihn der Akkusativ, Dativ und Genitiv bereits wie seine zweite Haut an. Diese half ihm ungemein, sich in die neue Materie einzuarbeiten. Als Akademiker musste man auf dem Arbeitsmarkt ja branchenübergreifend flexibel sein. Der langsame Aneignungsprozess