Franz Kafka

Franz Kafka: Gesammelte Werke


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der Straße zu wenden, und streckte nur eine Hand aus, um Karl am Weggehen zu verhindern.

      »Laß nur«, sagte Brunelda und wehrte die Hand des Delamarche ab, »er bleibt ja schon.« Und sie drückte Karl noch fester ans Geländer, er hätte mit ihr raufen müssen, um sich von ihr zu befreien. Und wenn ihm das auch gelungen wäre, was hätte er damit erreicht! Links von ihm stand Delamarche, rechts hatte sich nun Robinson aufgestellt, er war in einer regelrechten Gefangenschaft.

      »Sei froh, daß man dich nicht hinauswirft«, sagte Robinson und beklopfte Karl mit der Hand, die er unter Bruneldas Arm durchgezogen hatte.

      »Hinauswirft?« sagte Delamarche. »Einen entlaufenen Dieb wirft man nicht hinaus, den übergibt man der Polizei. Und das kann ihm gleich morgen früh geschehen, wenn er nicht ganz ruhig ist.«

      Von diesem Augenblick an hatte Karl an dem Schauspiel unten keine Freude mehr. Nur gezwungen, weil er Bruneldas wegen sich nicht aufrichten konnte, beugte er sich ein wenig über das Geländer. Voll eigener Sorgen, mit zerstreuten Blicken sah er die Leute unten an, die in Gruppen von etwa zwanzig Mann vor die Gasthaustüre traten, die Gläser ergriffen, sich umdrehten und diese Gläser in der Richtung gegen den jetzt mit sich beschäftigten Kandidaten schwenkten, einen Parteigruß ausriefen, die Gläser leerten und sie, jedenfalls dröhnend, in dieser Höhe aber unhörbar, auf das Brett wieder niedersetzten, um einer neuen, vor Ungeduld lärmenden Gruppe Platz zu machen. Über Auftrag der Führer war die Kapelle, die bisher im Gasthaus gespielt hatte, auf die Gasse getreten, ihre großen Blasinstrumente strahlten aus der dunklen Menge, aber ihr Spiel verging fast im allgemeinen Lärm. Die Straße war nun, wenigstens auf der Seite, wo sich das Gasthaus befand, weithin mit Menschen angefüllt. Von oben, woher Karl am Morgen im Automobil gekommen war, strömten sie herab, von unten, von der Brücke her, liefen sie herauf, und selbst die Leute in den Häusern hatten der Verlockung nicht widerstehen können, in diese Angelegenheit mit eigenen Händen einzugreifen, auf den Balkonen und in den Fenstern waren fast nur Frauen und Kinder zurückgeblieben, während die Männer unten aus den Haustoren drängten. Nun aber hatte die Musik und die Bewirtung den Zweck erreicht, die Versammlung war genügend groß, ein von zwei Automobillaternen flankierter Führer winkte der Musik ab, stieß einen starken Pfiff aus, und nun sah man den ein wenig abgeirrten Träger mit dem Kandidaten durch einen von Anhängern gebahnten Weg eiligst herbeikommen.

      Kaum war er bei der Gasthaustüre, begann der Kandidat im Schein der nun im engen Kreis um ihn gehaltenen Automobillaternen seine neue Rede. Aber nun war alles viel schwieriger als früher, der Träger hatte nicht die geringste Bewegungsfreiheit mehr, das Gedränge war zu groß. Die nächsten Anhänger, die früher mit allen möglichen Mitteln die Wirkung der Reden des Kandidaten zu verstärken versucht hatten, hatten nun Mühe, sich in seiner Nähe zu erhalten, wohl zwanzig hielten sich mit aller Anstrengung am Träger fest. Aber selbst dieser starke Mann konnte keinen Schritt nach seinem Willen mehr machen, an eine Einflußnahme auf die Menge durch bestimmte Wendungen oder durch passendes Vorrücken oder Zurückweichen war nicht mehr zu denken. Die Menge flutete ohne Plan, einer lag am anderen, keiner stand mehr aufrecht, die Gegner schienen sich durch neues Publikum sehr vermehrt zu haben, der Träger hatte sich lange in der Nähe der Gasthaustüre gehalten, nun aber ließ er sich, scheinbar ohne Widerstand, die Gasse auf- und abwärts treiben, der Kandidat redete immerfort, aber es war nicht mehr ganz klar, ob er sein Programm auseinanderlegte oder um Hilfe rief; wenn nicht alles täuschte, hatte sich auch ein Gegenkandidat eingefunden, oder gar mehrere, denn hie und da sah man in irgendeinem plötzlich aufflammenden Licht einen von der Menge emporgehobenen Mann mit bleichem Gesicht und geballten Fäusten eine von vielstimmigen Rufen begrüßte Rede halten.

      »Was geschieht denn da?« fragte Karl und wandte sich in atemloser Verwirrung an seine Wächter.

      »Wie es den Kleinen aufregt«, sagte Brunelda zu Delamarche und faßte Karl am Kinn, um seinen Kopf an sich zu ziehen. Aber das hatte Karl nicht wollen und er schüttelte sich, durch die Vorgänge auf der Straße förmlich rücksichtslos gemacht, so stark, daß Brunelda ihn nicht nur losließ, sondern zurückwich und ihn gänzlich freigab. »Jetzt hast du genug gesehen«, sagte sie, offenbar durch Karls Benehmen böse gemacht, »geh ins Zimmer, bette auf und bereite alles für die Nacht vor.« Sie streckte die Hand nach dem Zimmer aus. Das war ja die Richtung, die Karl schon seit einigen Stunden nehmen wollte, er widersprach mit keinem Wort. Da hörte man von der Gasse her das Krachen von viel zersplitterndem Glas. Karl konnte sich nicht bezwingen und sprang noch rasch zum Geländer, um flüchtig noch einmal hinunterzuschauen. Ein Anschlag der Gegner, und vielleicht ein entscheidender, war geglückt, die Automobillaternen der Anhänger, die mit ihrem starken Licht wenigstens die Hauptvorgänge vor der gesamten Öffentlichkeit geschehen ließen und dadurch alles in gewissen Grenzen gehalten hatten, waren sämtlich und gleichzeitig zerschmettert worden, den Kandidaten und seinen Träger umfing nun die gemeinsame unsichere Beleuchtung, die in ihrer plötzlichen Ausbreitung wie völlige Finsternis wirkte. Auch nicht beiläufig hätte man jetzt angeben können, wo sich der Kandidat befand, und das Täuschende des Dunkels wurde noch vermehrt durch einen gerade einsetzenden, breiten, einheitlichen Gesang, der von unten, von der Brücke her sich näherte.

      »Habe ich dir nicht gesagt, was du jetzt zu tun hast!« sagte Brunelda. »Beeile dich. Ich bin müde«, fügte sie hinzu und streckte dann die Arme in die Höhe, so daß sich ihre Brust noch viel mehr wölbte als gewöhnlich. Delamarche, der sie noch immer umfaßt hielt, zog sie mit sich in eine Ecke des Balkons. Robinson ging ihnen nach, um die Überbleibsel seines Essens, die noch dort lagen, beiseite zu schieben.

      Diese günstige Gelegenheit mußte Karl ausnützen, jetzt war keine Zeit hinunterzuschauen, von den Vorgängen auf der Straße würde er unten noch genug sehen, und mehr als von hier oben. In zwei Sprüngen eilte er durch das rötlich beleuchtete Zimmer, aber die Tür war verschlossen und der Schlüssel abgezogen. Der mußte jetzt gefunden werden, aber wer wollte in dieser Unordnung einen Schlüssel finden und gar in der kurzen, kostbaren Zeit, die Karl zur Verfügung stand! Jetzt hätte er schon eigentlich auf der Treppe sein, hätte laufen und laufen sollen. Und nun suchte er den Schlüssel! Suchte ihn in allen zugänglichen Schubladen, stöberte auf dem Tisch herum, wo verschiedenes Eßgeschirr, Servietten und irgendeine angefangene Stickerei herumlagen, wurde durch einen Lehnstuhl angelockt, auf dem ein ganz verfitzter Haufen alter Kleidungsstücke sich befand, in denen der Schlüssel sich möglicherweise befinden, aber niemals aufgefunden werden konnte, und warf sich schließlich auf das tatsächlich übelriechende Kanapee, um in allen Ecken und Falten nach dem Schlüssel zu tasten. Dann ließ er vom Suchen ab und stockte in der Mitte des Zimmers. Gewiß hatte Brunelda den Schlüssel an ihrem Gürtel befestigt, sagte er sich, dort hingen ja so viele Sachen, alles Suchen war umsonst.

      Und blindlings ergriff Karl zwei Messer und bohrte sie zwischen die Türflügel, eines oben, eines unten, um zwei voneinander entfernte Angriffspunkte zu erhalten. Kaum hatte er an den Messern gezogen, brachen natürlich die Klingen entzwei. Er hatte nichts anderes wollen, die Stümpfe, die er nun fester einbohren konnte, würden desto besser halten. Und nun zog er mit aller Kraft, die Arme weit ausgebreitet, die Beine weit auseinander gestemmt, stöhnend und dabei genau auf die Tür aufpassend. Sie würde nicht auf die Dauer widerstehen können, das erkannte er mit Freuden aus dem deutlich hörbaren Sichlockern der Riegel, je langsamer es aber ging, desto richtiger war es, aufspringen durfte ja das Schloß gar nicht, sonst würde man ja auf dem Balkon aufmerksam werden, das Schloß mußte sich vielmehr ganz langsam voneinander lösen, und darauf arbeitete Karl mit größter Vorsicht hin, die Augen immer mehr dem Schlosse nähernd.

      »Seht einmal«, hörte er da die Stimme des Delamarche.

      Alle drei standen im Zimmer, der Vorhang war hinter ihnen schon zugezogen, Karl mußte ihr Kommen überhört haben, die Hände sanken ihm bei dem Anblick von den Messern herab. Aber er hatte gar nicht Zeit, irgendein Wort zur Erklärung oder Entschuldigung zu sagen, denn in einem weit über die augenblickliche Gelegenheit hinausgehenden Wutanfall sprang Delamarche – sein gelöstes Schlafrockseil beschrieb eine große Figur in der Luft – auf Karl los. Karl wich noch im letzten Augenblick dem Angriff aus, er hätte die Messer aus der Tür ziehen und zur Verteidigung benützen können, aber das tat er nicht, dagegen griff er, sich bückend und aufspringend, nach dem breiten Schlafrockkragen des Delamarche, schlug ihn in die Höhe, zog ihn dann noch