Charles Dickens

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das ich so gut kannte, war auf ihrem Gesicht erstarrt. Viele, viele Male bei Tag und bei Nacht legte ich meinen Kopf auf das Kissen neben sie, damit sie mein Flüstern besser verstünde, und küßte sie und dankte ihr, betete für sie, bat sie um ihren Segen und ihre Verzeihung und flehte sie an, mir nur ein einziges Zeichen zu geben, daß sie mich erkenne oder höre. Nichts, nichts, nichts! Ihr Gesicht blieb unbeweglich. Bis zuletzt. Und selbst dann wich der finstere Ausdruck nicht von ihrer Stirn.

      Am Tag nach dem Begräbnis meiner guten Patin stellte sich der schwarze Herr mit dem weißen Halstuch wieder ein. Mrs. Rachael schickte nach mir, und ich fand ihn auf derselben Stelle, als wäre er niemals weggegangen.

      »Ich heiße Kenge«, sagte er. »Merk dir den Namen, liebes Kind; Kenge & Carboy, Lincoln's-Inn.«

      Ich gab zur Antwort, daß ich mich erinnerte, den Herrn schon früher einmal gesehen zu haben.

      »Bitte, setz dich – hier neben mich. Weine nicht, es nützt nichts. Mrs. Rachael! Ich brauche Ihnen, die Sie mit der seligen Miß Barbary Angelegenheiten bekannt waren, nicht erst zu sagen, daß ihr Einkommen mit ihrem Leben zu Ende ging und daß diese junge Dame jetzt nach dem Tode ihrer Tante -«

      »Meiner Tante, Sir?«

      »Es hat ja doch keinen Zweck, eine Täuschung aufrecht zu erhalten, die keinen Sinn mehr hat«, sagte Mr. Kenge besänftigend. »Tatsächlich war sie deine Tante, wenn auch nicht vor dem Gesetze. Aber weine doch nicht. Weine nicht! Beruhige dich! – Mrs. Rachael, unsere junge Freundin hat zweifellos gehört – von – der – hm – Sache Jarndyce kontra Jarndyce?«

      »Nie«, sagte Mrs. Rachael.

      »Ist es denn möglich«, fuhr Mr. Kenge fort und setzte seine Brille auf, »daß unsere junge Freundin – aber geh, weine doch nicht – niemals von 'Jarndyce kontra Jarndyce' gehört hat?«

      Ich schüttelte den Kopf und hatte nicht die leiseste Ahnung, worum es sich handelte.

      »Nichts von 'Jarndyce kontra Jarndyce'?« wiederholte Mr. Kenge, blickte mich über die Brille hinweg an und liebkoste das Futteral mit den Händen. »Nichts von einem der größten aller bekannten Kanzleigerichtsprozesse, nichts von dem Fall 'Jarndyce kontra Jarndyce', – der für sich schon – hm – ganz für sich allein ein Denkmal in der Kanzleigerichtspraxis bedeutet? – In dem, möchte ich sagen, jede Schwierigkeit, jede Möglichkeit, jede Rechtsfiktion, jede Prozeßform, die bei diesem Gerichtshof bekannt ist, sich immer und immer wieder verkörpert? Es ist ein Rechtsfall, der nirgends als in unserm großen und freien Lande existieren könnte! Ich möchte behaupten, daß die Gesamtkosten in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce – Mrs. Rachael – ich fürchte –« er wendete sich von mir ab, weil ich mich unaufmerksam zeigte – »sich gegenwärtig auf sechzig- bis siebzigtausend Pfund belaufen«, ergänzte Mr. Kenge, in seinen Stuhl zurückgelehnt.

      Der Gegenstand war mir so gänzlich unbekannt, daß ich damals auch nicht das Allergeringste davon verstand.

      »Und sie hat wirklich nie etwas von der Sache gehört? Höchst erstaunlich!«

      »Miß Barbary, Sir«, erklärte Mrs. Rachael, »die jetzt unter den Seraphim weilt –«

      »Das hoffe ich zuversichtlich«, unterbrach Mr. Kenge höflich.

      »– wünschte, daß Esther nur lerne, was ihr von Nutzen sein könne. Und sie ist hier auch weiter nichts gelehrt worden.«

      »Hm«, sagte Mr. Kenge. »Das ist im großen ganzen sehr richtig. Aber jetzt zur Sache!« fuhr er zu mir gewendet fort. »Miß Barbary, deine einzige Verwandte – tatsächlich nämlich – denn ich muß dir bemerken, daß du von Gesetzes wegen keine Verwandten hast –, ist jetzt tot, und da man natürlich von Mrs. Rachael nicht erwarten kann –«

      »O Gott nein«, fiel Mrs. Rachael schnell ein.

      »Sehr richtig!« – daß sie die Sorge für deinen Lebensunterhalt auf sich nimmt, so sehe ich mich veranlaßt, ein Anerbieten zu erneuern, das ich schon vor ungefähr zwei Jahren Miß Barbary zu machen beauftragt war und das damals abgelehnt wurde. Wir hatten uns jedoch dahin geeinigt, daß es für den Fall des Todes deiner Tante wiederholt werden sollte. Ich glaube nun, nicht im geringsten gegen die in meinem Berufe übliche Reserve zu verstoßen, wenn ich verrate, daß ich in Sachen Jarndyce kontra Jarndyce und auch in anderer Hinsicht einen sehr menschenfreundlichen, wenn auch zugleich sehr eigentümlichen Mann vertrete.« Mr. Kenge lehnte sich wieder in seinen Stuhl zurück und sah uns beide ruhig an.

      Der Klang seiner eigenen Stimme schien ihn über die Maßen zu freuen. Ich sah darin nichts Wunderbares, denn sie war weich und wohlklingend und verlieh jedem Worte, das er aussprach, den Anschein großer Wichtigkeit. Er hörte sich mit sichtlicher Befriedigung zu und schlug manchmal zu seiner eigenen Musik mit dem Kopfe den Takt oder rundete einen Satz mit einer gefälligen Handbewegung ab. Selbst damals schon, als ich noch gar nicht wußte, daß er sich nach dem Muster des hohen Lords, der sein Klient war, herangebildet hatte und allgemein »Konversationskenge« genannt wurde, machte er einen großen Eindruck auf mich.

      »Da Mr. Jarndyce«, fuhr er fort, »von der – ich möchte sagen, verzweifelten – Lage unserer jungen Freundin unterrichtet ist, so bietet er ihr an, sie in einer Anstalt ersten Ranges unterbringen zu wollen, wo ihre Erziehung vollendet, ihr gutes Auskommen gesichert, für alle ihre Bedürfnisse, soweit sie vernünftig und nötig sind, gesorgt und sie selbst endlich befähigt werden soll, ihre Pflicht in der Lebensstellung zu erfüllen, die ihr anzuweisen – darf ich wohl sagen, der Vorsehung – gefallen hat.«

      Mein Herz war so tief ergriffen von dem, was er sagte, wie auch von der liebreichen Weise, in der er es tat, daß ich beim besten Willen kein Wort sprechen konnte.

      »Mr. Jarndyce stellt keinerlei Bedingungen und spricht nur die Erwartung aus, daß unsere junge Freundin die fragliche Anstalt ohne sein Wissen und Zutun nicht verlassen und sich mit Fleiß der Erwerbung der Kenntnisse und Fertigkeiten widmen werde, durch deren Anwendung und Ausübung sie sich später soll erhalten können – und daß sie auf dem Pfade der Tugend und Ehre bleiben möge und – daß – hm – und so weiter.«

      Ich konnte noch weniger sprechen als vorher.

      »Nun, was sagt unsere junge Freundin?« fuhr Mr. Kenge fort. »Laß dir Zeit, laß dir Zeit. Ich warte auf deine Antwort. Laß dir nur Zeit.«

      Was ich zu diesem Anerbieten zu sagen versuchte, brauche ich nicht zu wiederholen. Was ich wirklich sagte, ist kaum des Erzählens wert. Und was ich fühlte und bis zu meiner letzten Stunde fühlen werde, das könnte ich nicht in Worte bringen.

      Diese Unterredung fand in Windsor statt, wo ich mein ganzes Leben zugebracht hatte, soweit ich zurückdenken konnte. Acht Tage später verließ ich, reichlich mit allem Notwendigen versehen, den Ort, um mit der Landkutsche nach Reading zu fahren.

      Mrs. Rachael war zu gut, um beim Abschied bewegt zu sein. Aber ich war nicht so gut und weinte bitterlich. Ich dachte, daß ich sie nach so vielen Jahren eigentlich besser kennen und mich bei ihr so in Gunst gesetzt haben sollte, daß ihr der Abschied weh tun müsse.

      Als sie mir einen so kalten Abschiedskuß auf die Stirne drückte, als ob ein großer Tropfen von dem Eise oben an dem steinernen Torgewölbe niedertaute, fühlte ich mich so elend und schuldbewußt, daß ich sie umarmte und ihr sagte, ich wisse wohl, es sei meine Schuld, daß ihr der Abschied von mir so leicht werde.

      »Nein, Esther«, entgegnete sie. »Dein Unglück ist schuld daran.«

      Die Kutsche stand vor der kleinen Gartenpforte – wir waren erst aus dem Hause getreten, als wir sie hatten kommen hören –, und so verließ ich Mrs. Rachael mit bekümmertem Herzen. Sie ging hinein, ehe noch mein Koffer auf die Kutsche gehoben worden, und machte die Türe zu.

      Solange ich das Haus sehen konnte, blickte ich mit Tränen in den Augen aus dem Fenster zurück. Meine Patin hatte Mrs. Rachael ihr ganzes kleines Vermögen vermacht, und es sollte Auktion sein; ein alter Kaminteppich mit Rosen darauf, der mir immer als das Schönste auf Erden vorgekommen war, hing draußen in Frost und Schnee. Ein oder zwei Tage vorher