Gabriele Engelbert

Magdalenas Mosaik


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äußerlich die Rede.

      Als sie im Herbst 1936 in Hamburg-Altona aus dem Zug stiegen, hatten sie eine lange Fahrt hinter sich.

      Sie schleppte Koffer und Rucksack, Georg lud den zweiten Rucksack auf seine schmalen, 15jährigen Schultern und packte Tasche und Koffer an. Hannele, gerade 11 Jahre alt, ließ Lenes Hand nicht los. Suchend sahen sie sich um.

      Ernst stand auf dem Bahnsteig. Wie alt er aussah. Die Schultern vorgebeugt, sein Schädel fast blank, sobald er den Hut schwenkte, als er sie erblickt hatte. Aber seine Augen leuchteten altbekannt. „Lenchen!“

      Sie liefen aufeinander zu, lagen sich in den Armen. Sich aneinander festzuhalten, das war doch etwas. Fast wie ein Nach-Hause-Kommen. Mein Gott, das tat gut nach all dem elendigen Durcheinander in den vergangenen Monaten.

      Die Kinder waren zögernd stehengeblieben. „Weint er?“ flüsterte Hanna.

      „Sei nicht dammlich“, sagte Georg, „Du weißt doch, dass wir alle traurig sind.“ Aber er hatte beim Anblick des unbekannten Onkels einen hoffnungsvollen Zug um den Mund, das bemerkte die kleine Schwester auch bei der eigenen Unsicherheit.

      Lene nahm sich zusammen, straffte die Schultern, holte tief Luft. „Meine Güte, sind wir froh, dass wir hier sind bei Onkel Enn.“

      „Sagt man gerne ‚Viva‘ zu mir. So nennen mich hier die lieben Leute.“

      Die Kinder gaben ihm die Hand, Hanna knickste mit einem fragenden Blick, Georg dienerte wohlerzogen. Ernst musterte sie. Sein altvertrautes Lächeln wischte Unsicherheiten aus. „Ich denk‘ wir kommen schon klar, was Hanna? Geoorch?“

      Der Junge lächelte dankbar. Der Onkel sprach seinen Namen ostpreußisch aus, das tat gut.

      Sie nahmen die Straßenbahn. Lene sah die Blicke der Kinder, die neugierig den unbekannten Onkel musterten.

      „Keine Bange“, sagte der, „Ihr seid natürlich gespannt, wie das so wird mit uns.“ Er spreizte erwartungsvoll die Finger auseinander, „Und das bin ich übrigens auch, wisst ihr?“

      Als Lene die zaghafte Erleichterung in Georgs Gesicht sah, war sie bereits sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Die beste Notlösung auf jeden Fall.

      Sie saßen sich gegenüber, die jungen und die alten Geschwister. Die Kinder sperrten Augen und Ohren auf vor der fremden, großen Stadt, die sie gemütlich durchquerten. Hamburg, das war neu, ebenso das Quietschen in den Kurven und das eifrige Klingeln dieser komischen gelben Straßenbahn an den Haltestellen. Die Bahn fuhr auf Schienen, hing an der Oberleitung wie an Drähten eines vom Grauhimmel gesteuerten Marionettentheaters.

      „Müde?“ fragte Enn.

      Lene nickte. Müde von der Fahrt, müde sowieso durch und durch von innen heraus das ganze letzte Jahr. Müde, wie zersplittert und gleichgültig fühlte sie sich wie nie zuvor in ihrem Leben, - das waren ihr bisher völlig unbekannte Gefühle. Erstaunlich, dass da doch so etwas wie eine Spitze von Neugier sich hervordrängelte. Obwohl: was konnte jetzt noch kommen? Gegen die Gleichgültigkeit hatte sie angekämpft. Wegen der Kinder. Das war sie Paul schuldig. Das einzige, was sie für ihn noch tun konnte, was ihr geblieben war.

      „Umsteigen“, sagte Enn und stand auf. Dammtor hieß es hier. Dann in die nächste Bahn, eine Nummer zwei, Richtung Winterhude. Was für Namen die hier hatten.

      Schon bald sollten sie wieder aussteigen. „Eppendorfer Krankenhaus“, sagte der Onkel, den sie Viva nennen sollten, „Da oben ist die Wohnung.“ Er wies in die hohen Baumzweige gegenüber, hinter denen Hausmauern knapp zu erkennen waren. Sie überquerten die große Straße. Der Wohnblock aus roten Klinkern lag behäbig zwischen Kastanienlaub unter dem blassen Abendhimmel. Hier wirkte die Stadt nicht ganz so städtisch wie Lene es befürchtet hatte. Und dann das Treppenhaus mit halbhoch moosgrün tapezierten Wänden, verhalten knarrenden, gebohnerten Dielen, und die Glastür des Fahrstuhls mit blitzenden Messing-Griffstangen und -Rahmen. Also wirklich, vor solchem Luxus erstarrten sie alle drei fast ehrfurchtsvoll. So vornehm? Fragend blickten die Kinder, aber der Viva nickte schmunzelnd. „Is‘ schon richtig hier.“

      Dann zeigte er ihnen die Wohnung. Hohe Zimmer, weiße Decken, Tapeten und weiß gestrichene Türen, große Fenster überall. Herrschaftlich. Nobel. Sie staunten.

      „Provisorisch erstmal“, erklärte Ernst, „Eure Möbel kommen ja noch.“

      „Und die Bücher“, erinnerte Lene.

      Sie ließen sich herumführen wie in einem leeren Museum. Vorn die Garderobe, ein Spiegel über dem Tischchen. „Da kommt der Hund drauf“, meinte Lene.

      „Ach, ja? Den hast du noch?“

      „Kennst du den? „ fragte Georg, „Unseren weißgrauen Porzellanhund?“

      „Natürlich.“ Viva lächelte. „Sowas vergisst man nicht.“

      Das war wie ein kleiner Schritt aufeinander zu. Weitere würden folgen.

      Links vom Eingang, der Garderobe gegenüber, ein kleines Zimmer mit Fenster zum weitläufigen Innenhof. „Das war früher das Mädchenzimmer, die Hilfskraft, die wäre eigentlich auch jetzt noch nötig“, meinte Ernst, „Oder, ich dachte, vielleicht wird das dein Reich, Georg?“

      Sie guckten erstmal weiter. Den Flur entlang. Rechts neben der Garderobe, stand eine Couch, die man unter Kissen kaum sehen konnte. Daneben das Telefon. Das war nicht üblich zu der Zeit. Aber hier bei Ernst und seinen Hanseaten hätte Lene wahrscheinlich nichts anderes erwarten können. Die Kinder waren von zu Hause natürlich daran gewöhnt.

      Dann, neben dem kleinen Zimmer, die Küche: Geräumig, sah Lene. In der Mitte ein großer Tisch mit Stühlen, rechts vor der Wand ein Herd, Spüle, links hinten eine schmale Balkontür, in der Ecke wohl eine Speisekammer.

      Ernst öffnete die Tür. „Der Balkon ist winzig. Aber wir können uns zuwinken.“

      Lene sah ihn fragend an, dann begriff sie. „Kaki und Christian wohnen da drüben mit den Jungs?“ Sie blickte in das Hofkarree hinunter, sah eine magere Wiese, zwei Teppichstangen. Rundum der Häuserblock, einheitlich rote Klinker, große Fenster, kleine Küchen-Balkone. Irgendwo da gegenüber wohnten sie also: Ernsts Tochter mit ihrer Familie. „Wie gut für euch“, sagte sie und begriff ohne Worte, wie der Bruder froh war nach Metas Tod wenigstens Margarita in der Nähe zu haben, die von allen Kaki genannt wurde.

      Ernie, Enns Ältester, war mit seiner Irene in Venezuela geblieben mit ihrer inzwischen großen Familie. Und Peter? Der wohnte auch nicht weit weg. soviel Lene wusste.

      „Was für Jungchen?“ wollte Georg wissen.

      „Die beiden von Vivas Tochter, der Kaki“, sagte Lene, „Die werdet ihr kennenlernen.“

      „Sind noch klein, Eure Neffen“, sagte Viva, „Sechs und acht Jahre alt.“

      Hanna blieb stumm. Blickte wie ihr Bruder in den Hof hinunter. Zwei Mädchen liefen da mit einem Ball herum. „Habt ihr keinen Garten?“ fragte sie schließlich leise.

      Lene presste die Lippen aufeinander. Viva strich der Nichte über die dunklen Zöpfe. „Es ist ganz sicher da unten“, sagte er zu Lene gewandt, „Kein Garten, aber sicher vor fremden Leuten und vor Hunden. Kein direkter Zugang von der Straße her.“

      „Man kann nicht alles haben“, meinte Lene. Der Garten vorher, die Freiheiten dort überall in und um die Kleinstadt, - Sicherheit war dort selbstverständlich gewesen. Hier war die Fremdheit einer Großstadt. Einfach würde es natürlich nicht werden. Nicht für die Kinder, nicht für sie selbst.

      Sie traten wieder auf den Flur. Links um die Ecke herum öffnete sich eine riesig große Diele im Halbdunkel. „Der Korridor“, sagte Ernst.

      „So viel Platz?“ staunte Hanna, „Und unsere Sachen?“

      Es wird hier schon alles hineinpassen“, sagte Lene, „Das sehen wir dann.“

      Geradeaus hinter der Glastür war erstmal ein großes Zimmer mit Blick zur Straße