Gabriele Engelbert

Magdalenas Mosaik


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Es gab wahrlich Wichtigeres, fand Lene.

      Zu den wichtigeren Ereignissen gehörte bald nach Lenchens Schulbeginn eines Tages die Silberhochzeit ihrer Eltern. Die fand am 11. Oktober 1895 statt, sagten Mutter und Vater. Sie mussten es ja wissen. Mama war 44 Jahre alt und Papa sogar schon 51, beide also schon steinalt, fand Lenchen.

      Es wurde eine große Feier für und von und mit Mama und Papa, na klar, sie waren die Hauptpersonen, aber auch eine Feier für die Kinder. Die waren ja damals bei der Hochzeit vor 25 Jahren alle nicht dabei gewesen. Aber jetzt umso mehr. Alle waren zu Hause. Und deshalb konnte die ganze Familie aus diesem Silber-Anlass ein Fotoatelier aufsuchen. Das war selten und richtig aufregend. Man sollte stillstehen und musste versuchen ein kluges, ernstes Gesicht zu machen. Das gelang den Großen, die durften auf einem Sofa sitzen. Aber Lenchen als Kleinste sollte wirklich still stehen, das war fast unmöglich, und dazu nicht nur klug und ernst, sondern süß aussehen. Das fand sie unglaublich schwierig. War das ganze Getue nicht albern? Sie unterdrückte krampfhaft ein Lachen, das in ihrem Bauch herausdrängelte. Und in ihrem Bauch zappelte alles vor Aufregung und von der Anstrengung, denn sie wollte den Eltern natürlich den Gefallen tun und nicht alles verderben bei dem vornehmen Fotografen. Schließlich war diese Geschichte aber vorbei, etwa wie eine geglückte Theaterprobe. Sie saßen endlich alle gemütlich zu Hause, Mama und Papa guckten sich immerzu an und lächelten und dachten sicherlich an ihre Hochzeitsfeier vor 25 Jahren. Wie das damals genau gewesen war, das behielten sie aber für sich, das gehörte zu ihren „inneren“ Erlebnissen, welche die Kinder wohl nichts angingen, und in welche die sich nicht einmischen wollten. Aber neugierig waren sie natürlich. Und schließlich bekamen sie auch wenige, knappe Antworten auf ihre wissbegierigen Fragen. Man stelle sich vor, damals waren Papa und Mama junge Leute gewesen. Und Mama wurde sogar rot, als sie zugab, dass sie und Papa an jenem 11. Oktober vor 25 Jahren sehr aufgeregt gewesen waren. Aufgeregt? Nein, das stritt Papa energisch ab. Aber Mama knuffte ihn lächelnd in die Seite. „Doch, du auch“, kam es unter Lachen heraus, „Warst richtig zappelig. Kannst es ruhig zugeben, Ernst.“

      Da hatten sie alle etwas zu lachen und überhörten Papas empörtes „Papperlapapp.“ Aber er lachte auch.

      Sobald Lenchen einigermaßen mit Buchstaben umzugehen verstand, schloss sie sich, wie bereits erwähnt, mit Vehemenz der Familien-Tradition des Briefeschreibens an.

      Aus der Schulzeit sind einige dieser Kinderbriefe erhalten. Die machten deutlich, wie sehr sie seit jeher an ihren Geschwistern hing. Die waren ihr immer wichtig gewesen. Und umgekehrt liebten alle das Nesthäkchen, auch wenn es sich so anders entwickelte als die großen Schwestern. Von der Geschwisterliebe geben die Briefchen einen Eindruck.

       Liebe Marta ich war auf dem polterabend Dore Trese un alfridridwilde fürten drei Ledis auf Dore mit dem reifen Trese mit dem bal alfrid die puppe. Da Bei sangen sie an manchen schtellen immer heiter Gott hilft weiter sei euer Walschpruch alle zeit zangt euch nimmer liebt euch immer bis in alle ewigkeit:

      Darunter hatte Lenchen drei Damen gezeichnet, mit besagtem Reifen, Ball und Puppe:

       Drei Ledis (Ladys)

      Die alte Lene erinnerte sich. Wer damals geheiratet hatte, wusste sie zwar nicht mehr, aber es war ein lustiger Vor-Hochzeitsabend, sicher in einer der befreundeten Familien gewesen.

      In einem anderen Brief hieß es:

       Liebe gute Lotte!

       Ich kann dir nicht viel schenken aber weil Du meine Schwester bist muss ich Dir doch wenigstens eine Kleinigkeit machen. Deshalb packte ich Dir das Lesezeichen. Für die hübsche Karte danke ich Dir sehr ich habe mich über sie sehr gefreut.

       Es küsst dich 100 000 Mal! Deine Schwester L.W.

      Aus ihrem fünften Schuljahr, als sie fast 10 Jahre alt war, ist folgendes erhalten:

       Liebe Lotte !

       Nun bekommst Du wieder ein Paket. Denke bloß, bei uns hat es gespukt. Mama, Papa und Therese waren auf Gesellschaft und Martha und Dore oben. Fritz war in seiner Stube und ich mit Annchen in der Eßstube. Da klingelt es hinten, ich und Annchen laufen hin aufzumachen, aber es ist keiner da. Martha kam runter auch Werner. So ging daß drei Mal, ist daß nicht doll. Ich könnte noch lange Geschichten davon schreiben.

       Martha hat noch immer Influenza sie wird bald schreiben. Ich schreibe mir mit Mieze Hönn sehr oft, es ist Fritzens Schwester. Nun aber genug.

       Besten Gruß von deiner Lene.

       Martha läßt sehr grüßen.

      Die Namen Annchen und Fritz waren schon damals gebräuchlich. Die genannten Kinder seien natürlich nicht mit Lenes Nichte Annchen und mit ihrem eigenen Bruder Fritz zu verwechseln, erklärte sie Hanna und Georg, wenn sie ihnen, selten genug, von der eigenen Kindheit erzählte.

      Auch sie selbst erhielt Briefe, vor allem vom Vater. Der schrieb nicht nur an die eigenen Eltern und weitere Verwandten, sondern auch an seine größeren Kinder und Lenchen. Die konnte immerhin lesen, seit sie zur Schule ging, also bekam sie Post vom Vater, wenn der dienstlich verreist war. Anscheinend hatte er schon damals mit 55 Jahren, - wie aus den Briefen mehr oder weniger deutlich hervorging -, mit Herzproblemen zu tun, die ihn später noch mehr quälten.

      Postkarte, abgestempelt 7.11.1899, Königsberg, Ankunftsstempel 8.11.99. Osterode

       An Fräulein Magdalene Wüst Osterode

       Dienstag Nachm.

      L.L. (liebes Lenchen) heute ist mir wieder ganz gut, so dass ich in der Synode gewesen bin und abends zum Generalsuperintendent gehen werde, der mich zum Abendessen eingeladen hat. Wenn ich nicht morgen telegraphiere, fahre ich 2:51 Uhr Nachmittag morgen hier ab u. bin abends in Osterode, wo ich von Martha und Dore empfangen zu werden wünsche, falls sie nicht ausgebeten sind. Grüße Mama, danke ihr für die Karte und sage ihr, dass ich mich schon sehr auf „zu Hause“ freue. Ebenso grüße Fritz I., Fritz II. und Leo, ersterer ist hoffentlich schon wieder im Dienst. Dein Vater E.L.W.

      Fritz war ein gebräuchlicher Name. Mit Fritz I war sicherlich der Bruder gemeint. Fritz II konnte möglicherweise Lottchens geliebter Fritz sein, den sie aber erst 1904 heiratete.

      Eine Postkarte (aus Königsberg?), angekommen in Osterode am 10.6.1901, lautete:

       An Fräulein Lenchen Wüst

       Osterode in Ostpreußen (Gymnasium)

       Wenn ich mich nach der Heimat seh’n

       Und mir im Aug die Thränen stehn –

       Dann eil‘ ich flink zur Quelle hin

       Und stürz mich in den Strudel rin,

       Fort sind die Thränen

       Und all das Sehnen !

       Warum schreibst Du nicht wieder einmal? Habt ihr auch die Bäume begossen?

       Dein tr. V(ater) E.L.W.

       Mir geht es (Sonntag) gut.

       Vergessen habe ich Mama herzl. zu danken für die Süßigkeiten.

       Heute Brief vom Bürgermeister (Bestätigung) und Karte von Königsberger alten Schülern

       Morgen schicke ich die Wäsche ab.

      Ein Briefchen in rotem Umschlag vom Dezember 1904 (offenbar fast heimlich auf ein ähnliches Briefchen von Lene hin, innerhalb des Elternhauses Osterode geschickt), lautet

       Liebes Lenchen !

       Über Dein Schreiben habe ich mich, obschon der Inhalt nicht gerade erfreulich war, doch gefreut, weil ich daraus dein Vertrauen zu mir wieder erkannt habe; ich bin also nicht