Ekkehard Wolf

HARMLOS


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zwischen mir und der Person, die sich hinter der Stimme verbarg, hatte das mit Kindesmissbrauch im herkömmlichen Sinne nichts zu tun, absolut gar nichts. Das heißt nun natürlich nicht, dass es keine Berührung gab zwischen dieser Person und mir. Berührungspunkte gab es in Hülle und Fülle. Nur eben nicht solche. Andere hingegen schon. Gleichwohl hatte das mit Missbrauch absolut gar nichts zu tun. Eher mit Verbundenheit. Viele Menschen, die uns damals gekannt haben, waren geradezu gerührt von der Intensität der Nähe, die uns damals miteinander verbunden hat. Ich denke, es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass wir uns sehr nahe standen - damals. Die, die uns kannten, hielten uns für unzertrennlich. Und in gewisser Weise waren wir das wohl auch; also damals. Aber in ganz anderer Weise, als die, die uns erlebt haben, es vermutet haben. Ganz anders. Das soll jetzt kein Vorwurf sein. Jeder sieht eben das, was er sehen will und sehen kann und sehen soll. Wir, also die Stimme und ich, wir haben uns große Mühe gegeben, bei denen, die uns erlebt haben damals, den Eindruck zu hinterlassen, als ob wir unzertrennlich seien. In dem Punkt zum Beispiel waren wir uns einig. Wie sich noch herausstellen sollte, war das tatsächlich aber eine der insgesamt eher wenigen Gemeinsamkeiten. Das hielt uns jedoch nicht davon ab, den Menschen um uns herum das Gefühl zu geben, dass sie mit ihren Wahrnehmungen Recht hatten. So lernten wir im Laufe der Zeit immer besser, was man tun musste, um bei den anderen Menschen Gefühle auszulösen, die sie glauben ließen, das zu erleben, was sie erleben wollten. Mit der Wahrheit hatte das in der Regel nicht viel zu tun. Aber es bestärkte uns in der Überzeugung, unsere Mitmenschen nach Belieben das glauben zu lassen, was wir für nützlich hielten. Das machte uns stark.

      Gemeinsam sind wir stark

      Ich weiß nicht, ob Sie jemals Befriedigung erfahren haben. Ich meine nicht Befriedigung im sexuellen Sinne. Obwohl gemeinsame Erfahrungen dieser Art durchaus auch dazu beitragen können, befriedigende Erfahrungen von der Art zu vermitteln, die ich meine. Die Stimme, also die Person, die sich dahinter verbirgt und ich, wir haben uns Zeit unseres Lebens darum bemüht, Befriedigung gemeinsam zu erfahren. Auch die im sexuellen Sinne. Aber das stand nicht im Vordergrund. Sondern immer die Gemeinsamkeit. Gemeinsames

      Erleben war für uns deshalb so wichtig, weil wir nur so es teilen konnten. Einander mitteilen. Ohne Worte. Nur die aus gemeinsam Erfahrenem resultierende Befriedigung kommt ohne Worte aus. Diese Erfahrung hat uns immer verbunden. Auch das hat uns stark gemacht, uns beide. Ein Leben lang. Bis heute. Aber im Grunde waren wir sehr verschieden.

      Gegensätze ziehen sich an?

      Ja und nein. Jedenfalls war das so bei der Stimme und mir. Mal so und Mal so. Das hing von der Situation ab. Zumindest jedenfalls bei mir. Ob das für uns beide gilt, kann ich gar nicht mit Gewissheit sagen. Offen gesagt, habe ich mich bisher einfach nicht getraut zu fragen, ob sie mich anziehend findet. Also die Stimme meine ich und damit die Person, der sie gehört. Mich habe ich das schon oft gefragt und ich bin das auch schon oft gefragt worden. Und ich habe immer ja gesagt. Zu mir selbst und als Antwort auf die Frage der Person, deren Stimme mir gerade weismachen will, dass das, was wir jetzt vorhaben ganz harmlos ist. Im Grunde verstehe ich auch die Ansage nicht. Ich finde sie beunruhigend. Schließlich haben wir schon so viele Dinge gemeinsam gemacht. Meistens waren das schlimme Dinge, die wir gemacht haben. Schlimme und verbotene Dinge. Dinge, die so schlimm waren, weil sie verboten waren. Aber das hat uns nie gestört. Es hat uns angetörnt. Je verbotener, desto schlimmer. Der Mensch wächst mit seinen Herausforderungen, heißt es ja. Wenn das stimmt, dann sind wir wahrhaftig ständig gewachsen. Auch das natürlich nur im übertragenden Sinn. Jedenfalls nachdem wir den Kinderschuhen entwachsen waren, also das jetzt im körperlichen Sinn. Was haben wir nicht alles angestellt. Gemeinsam angestellt und gemeinsam genossen. Ohne Reue, ohne Skrupel aber mit vollem Einsatz. Befriedigung erleben eben. Nur darum ging es. Alles andere war egal. Da waren wir uns einig, allen Gegensätzen zum Trotz. Bisher jedenfalls. Bis zu diesem Vorschlag, diesem ungeheuerlichen Vorschlag. Ich denke mir deshalb manchmal, dass wir so gegensätzlich eigentlich gar nicht sein können. Aber wenn ich Recht hätte, dann würde ja die Überschrift zu diesem Kapitel eigentlich keinen rechten Sinn machen. Ich will mich hier mit Ihnen auch gar nicht auf eine Diskussion darüber einlassen, ob rechte Gedanken überhaupt irgendeinen Sinn machen. In unserem Fall war es jedenfalls so, dass wir trotz unserer Gegensätze immer alles gemeinsam gemacht haben. Also kann man, wie ich denke, schon sagen, dass es stimmt, wenn die Leute sagen, das sich die Gegensätze anziehen. Jedenfalls in unserem Fall. Aber wirklich nahe gekommen sind wir uns dabei nicht. Dazu waren wir einander nicht nahe genug. Aber das machte nichts; denn dass wir das miteinander machen konnten, das reichte uns. Das, was wir getan haben, hätten wir mit niemand anderem machen können. Das reichte uns - immer, bis heute. Aber bis heute hatte auch noch niemand versucht, dem Anderen weis zu mache, das das, was wir tun harmlos sei; denn das war es niemals gewesen. Bis heute eben.

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