sie gewagt hatte zu stellen. Sie hatte sich nie so benommen, wie die Nonnen es von ihr gewünscht hatten. Risse erschienen in dem Gerüst, indem sie sich bewegte und in dem sie dachte. Wollte Hönnlin sie nur testen. Log er, um ihren Glauben auf die Probe zu stellen. Aber was wenn er Recht hatte? Und was bedeutete es für sie, wenn sie wusste was Hönnlin offenbar wusste? Würde Hönnlin es in Frankreich verraten, wenn sie nun infrage stellte, was nicht infrage zu stellen war? Dabei fühlte es sich richtig an, mit ihm offen zu reden. Sie fühlte sich ihm näher als allen, die sie kannte. Selbst ihrer Mutter, die sie zweimal besucht hatte, fühlte sie sich nicht so nahe.
Hönnlin war längst wach, als Clara etwas wiederwillig die Augen öffnete. Er hatte das Feuer angefacht und einen Tee gekocht.
Es war bereits eine Weile hell, doch die feuchtkalte Luft der Nacht hatte sich in ihre Decke und ihre Kleider geschlichen. Deshalb richtete sie ihren Oberkörper auf und setzte sich näher ans Feuer. Hönnlin reichte ihr eine selbstgeschnitzte Holztasse mit wärmendem Tee.
„Wie hast du geschlafen?“, fragte Hönnlin dem aufgefallen war, wie unruhig Clara gelegen hatte. Sie zuckte unschlüssig mit den Schultern.
„Deine erste Nacht im Freien?“
Nach anfänglichem Zögern schüttelte sie den Kopf.
„Nein?“
„Ich bin einmal aus dem Kloster weggelaufen“, blickte Clara schuldbewusst drein.
„Und?“
„Nach drei Tagen bin ich zurück gegangen, weil ich Hunger hatte“, grinste Clara verlegen.
„War jemand böse zu dir?“ Hönnlin verurteilte sie nicht dafür.
„Nicht wirklich.“ Schon wieder so ein verwirrendes Gespräch, dachte sie.
„Nein?“, hackte Hönnlin nach.
„Ich“, zögerte sie. „Mir gefiel es nicht im Kloster. Immer wenn ich etwas wissen wollte, sagten sie mir, ich sei dumm und böse.“ Sie blickte Hönnlin direkt ins Gesicht, doch sie erkannte dort keine Verärgerung.
„Es ist nichts Böses daran, mehr wissen und verstehen zu wollen.“ Hönnlin sah Clara mitfühlend an.
„Aber warum sagen sie das?“, wagte sich Clara weiter vor.
„Angst“, antwortete Hönnlin prompt. „Angst vor Wissen, das mit der Religion nicht zu vereinen ist.“
„Aber ist die Religion nicht richtig?“, fragte Clara erschrocken.
„Der Glaube ist richtig! Der Glaube lässt sich auch nicht von Wissen erschüttern, aber die Religion ist ein Mantel, den die Menschen erfunden haben und über den Glauben gestülpt haben.“
Clara starrte Hönnlin entgeistert an. Dabei hatte sie von Ungläubigen gehört, aber diese Worte aus dem Munde eines Mönches zu hören, schockierte sie. Es brachte Grundfeste ins Wanken von denen sie geglaubt hatte, dass sie unumstößlich seien.
„Aber Sie sind Mönch!“, versuchte Clara an ihrer Weltordnung festzuhalten.
„Ja, das bin ich“, nickte Hönnlin nachdenklich. „Aber ich werde die Mönchskutte bald ablegen“, gestand er, weil er es endlich ausgesprochen haben wollte.
Das war zuviel für Clara und so fiel sie in Schweigen. In ihrem Kopf schossen die Fragen nur so umher. Ebenso flogen die Aussagen der Nonnen durch ihren Kopf. Man müsse den Prüfungen des Teufels widerstehen, sagten sie immer wieder. War dies nun eine solche Prüfung? Musste sie zeigen, dass sie und ihr Glaube stark waren? Musste sie Hönnlin auf den rechten Weg zurück führen?
Selbst eine Stunde nach ihrem Aufbruch, war noch kein unnötiges Wort gefallen. Doch nun brach Hönnlin das Schweigen, auch aus Angst, sie zu sehr verstört zu haben. Er war sich auch schnell bewusst geworden, dass er den Samen des Zweifels in ihren Kopf gesetzt hatte, der ihr die verbleibende Zeit im Kloster unnötig schwer werden ließ. Er hätte besser darüber nachdenken sollen.
Darum wählte er seine Worte nun mit Bedacht und mied verfängliche Themen. Er zeigte ihr Pilze und Kräuter und erklärte ihr, welche man essen konnte und für was sie hilfreich sein mochten. Auch machte er auf die Spuren von Tieren aufmerksam.
Obwohl Clara mehr und mehr sprach, so konnte Hönnlin an ihrer Nachdenklichkeit nichts mehr ändern. Sie war tief aufgewühlt und Hönnlin bereute es, so offen mit ihr gesprochen zu haben. Es war egoistisch von ihm gewesen. Für ihn war es eine Erleichterung, doch für Clara war es eine Last, die zu schwer für sie war. In ihr herrschte Rebellion und zum Teil war es Hönnlins Rebellion, die mit tobte, aber in Clara fand diese zu wenig Widerstand.
Es gab einen Ausweg, aber den konnte er Clara unmöglich antun. Stattdessen versuchte er sie bestmöglich abzulenken und die Reise für sie so interessant wie möglich zu gestalten.
Wirklich schwierig fiel das Hönnlin nicht, da sich Clara von der Natur rasch faszinieren ließ. Auch lernte sie schnell und stellte viele Fragen. Kein Wunder, dass die Nonnen mit ihr überfordert waren, dachte Hönnlin mehr als einmal.
Das ausgelassene Abendessen
Es war nicht Ismars erste Reise, aber die mit Wigandus war eindeutig die seltsamste davon. Dessen Laune verschlechterte sich mit jedem Tag, auch wenn er tapfer versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Ihm fehlten vor allem ein gemütliches Bett und wohl auch andere Annehmlichkeiten, die das Leben in der Stadt bieten konnte. Auch war ersichtlich, dass er zwar reiten konnte, aber mögen tat er es nicht. Die ersten beiden Tage war er bemüht, Ismar Mut zuzusprechen, doch ab dem dritten Tag wurde die Reise zunehmend schweigsamer. Als sie am elften Tag am frühen Nachmittag ankamen, beschränkte sich ihr Wortwechsel nur mehr auf das Nötigste. Auch der Abschied fiel recht kurz aus. Wigandus lieferte ihn beim hiesigen Abt ab, händigte den im Namen des Bischofs verfassten Brief aus und verabschiedete sich mit den Worten, dass er weiter müsse. Schon seltsam, dachte Ismar, als er die erste Nacht in seinem neuen Bett lag, wie sich Menschen auf Reisen verändern können.
Er lag an diesem Abend lange wach. Er wusste, dass sein Leben ab Morgen ein ganz anderes sein würde, schließlich kannte er auch Jungs, die im Kloster waren. Sein Empfang hier hätte schlimmer sein können. Der Abt wirkte streng, aber nicht unmenschlich. Der Mönch, der sich seiner angenommen hatte, Bruder Baldemarus, war allerdings sehr reserviert geblieben. Ismar fragte sich ob Lachen im Kloster überhaupt gestattet war. Er lag auf dem Rücken und musste schlucken, als er an all die Späße dachte, die er hier wohl nicht mehr machen konnte. Er dachte an Caspar, an Michel und an Haman und vermisste sie jetzt schon. Die Gedanken an seine Eltern versuchte er zu verdrängen, doch auch sie geisterten ihm durch den Kopf und ließen den Drang nach Späßen verfliegen. Er fragte sich, wie es wohl seiner Schwester ging. Wigandus hatte ihm nicht genau gesagt, wo sie war, da er es wohl selbst nicht wusste. Ohnehin schien Wigandus auf einmal viel mehr nicht zu wissen, als Ismar das bei ihm gewohnt war.
Wigandus hatte ihm versprochen ihn im Alter von fast einundzwanzig abholen zu kommen. Das waren noch elf lange Jahre, dachte Ismar und richtete seinen Blick in den dunklen Raum.
Sieben weitere Betten standen in dem Zimmer, das kleiner war als sein Schlafgemach zu Hause. Die anderen hatten keine Probleme zu schlafen. Zwei waren in etwa sein Alter, die anderen jünger oder älter. Zwei wussten nicht einmal genau wie alt sie waren. Vor dem Schlafengehen, hatten sie erzählt, dass sie ausgesetzt worden waren.
Ein Mönch hatte sie zwischendurch unterbrochen, um zu sagen, dass endlich Ruhe sein sollte, doch später war er nicht mehr zurückgekehrt, und so hatten sie Ismar ausgefragt und auch von sich erzählt. Es schien für alle ein recht aufregendes Ereignis zu sein, wenn ein Neuer kam.
Die Geschichte, die er als die Seine erzählte war mit Wigandus besprochen und in weiten Zügen entsprach es der Wahrheit, aber nur soweit, dass keine Gerüchte aufkamen, wer er wirklich war. Nicht einmal der Abt kannte die Geschichte und selbst ein Großteil seines Erbes, das der Bischof verwahren sollte, würde die Abtei nie sehen. Wigandus hatte ihm dies alles erklärt, damit Ismar wusste, auf welchen Empfang er sich einstellen sollte.