des Opfertischs, nahm den Kopf des Mädchens in beide Hände, so dass seine Finger entlang der Wangen und die Handflächen über dem Kiefergelenk lagen. Obwohl die Szene wahrhaft gruselig war, und Sarah darum betete, dass die junge Frau nichts von alldem mitbekam, schien die Berührung sehr zärtlich, fast liebevoll zu sein. Behutsam dreht der Mann den Kopf der Rothaarigen, bis ihr Gesicht der Decke zugewandt war. Dann murmelte er erneut einige Verse, diesmal in Altgriechisch. Nachdem er verstummt war, legte er seine Stirn auf die des Mädchens und verharrte mindestens eine Minute. Schließlich gab er ihr einen sanften Kuss und nahm danach seine Position hinter dem Altar wieder ein. Abermals ertönte ein Gesang und Sarah fiel jetzt erst auf, dass der Mann über eine sehr schöne Stimme verfügte und die Töne treffsicher hervorbrachte. Als der Choral beendet war, zog der Unbekannte den Dolch und hielt ihn mit der stumpfen Seite der Klinge an den Hals seines Opfers. Er strich damit nach unten, über die linke Brust, den nackten Arm, zurück und über den Bauch in Richtung Schoß. Sarah hielt die Luft an, so sehr verinnerlichte sie, was sie vor sich sah. Es war faszinierend und unsäglich abstoßend zugleich, und als die Klinge in den Genitalbereich des Mädchens wanderte, hielt sie diese entsetzliche Spannung, die von ihr Besitz ergriffen hatte, schier nicht mehr aus! In ihr tobte der Kampf zwischen dem Wunsch, die Augen zu schließen oder das Video anzuhalten und dem Sog, der sie mitriss und dazu brachte, jedes noch so kleine Detail aufzunehmen, mit den Augen, mit den Fingern, die zu Fäusten verkrampft waren, mit der Luft, die sie atmete! Unfähig sich zu bewegen, unfähig wegzusehen verfolgte sie, wie der Priester, als den sie den Mann nun wahrnahm, mit dem Klingenrücken das Bein des Mädchens herunterfuhr, über den Rücken des nackten Fußes, zurück nach oben, nur um für einen Sekundenbruchteil im Schritt zu verweilen und im Anschluss das andere Bein hinunterzufahren. Das leise Murmeln des Mannes und die unerträglichen, mächtigen Bilder lösten fast einen Schwindel bei Sarah aus! Wie hypnotisiert verfolgte sie, wie das Messer das Bein wieder hinauf, über den Bauch, den Arm, die Brust und den Hals wanderte und er es schließlich mit der Spitze zum Kehlkopf weisend auf ihrem Brustbein ablegte. Er schwang die Kutte zurück, kletterte auf den Altar und setzte sich, fast wie zu einem Geschlechtsakt knapp unterhalb der Hüften auf das Mädchen. Als er die Kutte zurechtgezogen hatte, beugte er sich vor, nahm den Dolch und hob ihn weit nach oben, ging ins Hohlkreuz, schnellte nach vorne und ließ die Waffe auf das Mädchen niedersausen! Sarah zuckte nicht einmal mit den Wimpern, als das Messer mit einem dumpfen Geräusch in das Holz des Altars schlug – knapp neben dem Hals der Rothaarigen! Der Priester schrie laut, legte seinen Kopf auf der Brust des Mädchens ab und verharrte mehrere Minuten. Schließlich richtete er sich auf, schlug die Kapuze nach hinten und kletterte von dem Altar. Ohne jeglichen Pathos steuerte er die Kamera an und streckte den Arm aus. Unmittelbar danach wurde das Bild schwarz und das Video war zu Ende.
Sarah schnappte nach Luft! Hatte sie die ganze Zeit den Atem angehalten? Erst mit dem einströmenden Sauerstoff nahm sie den Rahmen des Bildschirms wieder wahr, weitete sich ihr Sichtfeld und sie sah den Schreibtisch, das Fenster, ihre Hände mit den Abdrücken ihrer Fingernägel, Thomas, der unbeweglich neben ihr saß. Wie konnte es sein, dass diese schrecklichen Bilder sie derart in den Bann gezogen hatten? Sie blickte zu ihrem Partner. Auch er atmete sehr tief und schien dem eben gesehenen nachzuhängen. Immer wieder schloss er die Augen und schüttelte ganz leicht den Kopf. Nach einer Weile sah er sie mit festem Blick an. Er war in der Realität angekommen.
„Ich kann es nicht glauben“, sagte er, doch Sarah wusste nicht, was er meinte: die grausamen, grotesken Bilder, oder aber seine Reaktion darauf. Hatte er die Szene genau so erlebt wie sie? Voller Emotionen, Neugier, Faszination? Verspürte er in diesem Moment dieselbe Scham, weil er, wie sie, dem Schauspiel fast lüstern gefolgt war? Sie vermochte es nicht zu beurteilen.
„Ich brauche eine Pause und etwas Ablenkung“, brach er nach einer gefühlten Ewigkeit das Schweigen.
„Ich bin zu einhundert Prozent bei dir“, befürwortete sie dankbar den Vorschlag.
Thomas erhob sich und nahm seinen Anorak von der Stuhllehne.
„Einmal um den Block?“, fragte er.
Sarah nickte, nahm ihrerseits ihre Jacke von dem Garderobenständer und folgte ihrem Partner auf den Flur. Den Weg zum Aufzug und die Fahrt ins Erdgeschoss brachten sie schweigend hinter sich, auch als sie nebeneinander bis zum Haupteingang gingen, sagte keiner ein Wort. Erst als sie durch die Glastür in die strenge Kälte getreten waren, begann Sarah ein Gespräch.
„Ich weiß nicht, wie es dir ergangen ist, aber das, was dieser Mann in der Kutte in dem Video veranstaltet hat, ist widerlich pervers.“
Sie zog die fellbesetzte Kapuze enger.
Thomas sah sie von der Seite an und meinte dann:
„Ja, das war abscheulich. Aber du hast doch bei deinem letzten Fall in Husum auch Schreckliches gesehen? Und das sogar in Realität und nicht auf Video?“
Sarah hatte sich schon gedacht, dass er, bevor sie vor einem halben Jahr nach Freiburg wechselte, genau studiert hatte, was sie zuvor im Norden gemacht hatte. Folglich waren ihm die Details ihres letzten Falls bestens bekannt.
„Ja, allerdings habe ich da ja lediglich die Bilder der Leichen gesehen, und nicht live mitverfolgen können, wie der Täter seinen Opfern diese schrecklichen Dinge angetan hat.“
„Nun, zu dem Mord ist es diesmal Gott sei Dank nicht gekommen“, sagte Thomas. „Aber du hast Recht, ich habe mir die ganze Zeit über verschiedene Fragen gestellt: Was geht in diesem Kopf vor? Was hat das Mädchen mitbekommen? Was nimmt er noch für Handlungen vor, vor allem auch sexueller Natur? Schließlich kann bei solchen Opferungen die Sexualität eine entscheidende Rolle einnehmen. Immerhin wissen wir, dass das Mädchen nicht oder zumindest nicht im Sinne der ursprünglichen Definition missbraucht wurde. Trotzdem hat mich die Art, wie er den Dolch geführt hat, an pervers-sexuelle Handlungen erinnert.“
Sarah hob den Blick und sah in Thomas‘ sorgenvolles, nachdenkliches Gesicht.
„Du hast dir auch ausgemalt, was passiert wäre, wenn es sich nicht um eine Art Übung gehandelt hätte, sondern die tatsächliche Opferungszeremonie?“
„Allerdings“, antwortete er. „Stell dir vor, er hätte all die Bewegungen mit der scharfen Seite des Messers vollführt. Nicht nur, dass er Arme, Beine, Hände und Füße geritzt hätte. Möglicherweise hätte er auch gezielt Verstümmelungen vorgenommen. Nach diesem Video mag ich mir nicht im Ansatz vorstellen, vor welch schrecklichen Taten das arme Mädchen sich selbst gerettet hat. Ich habe nämlich eine Befürchtung.“
„Und die wäre?“, fragte Sarah, da Thomas nicht von sich aus fortfuhr.
„Das Mädchen war nicht festgeschnallt, sondern betäubt. Wir wissen, dass er die Opferung sozusagen im Leerlauf durchgespielt hat. Ich befürchte, dass er bei dem finalen Akt auf eine Betäubung verzichtet und sie stattdessen mit den Lederriemen fixiert hätte. Immerhin, so die Fachliteratur, zieht ein sadistisch veranlagter Täter einen sehr großen Teil seines Thrills und seiner Befriedigung aus der Reaktion des Opfers. Die Todesangst in den Augen, das Schreien…“
Sarah schüttelte sich, ihr war ein Schauer übergelaufen.
„Und Gott sei Dank ist ihr die Flucht so rechtzeitig gelungen, dass er sie noch nicht hatte verletzen können.“
Thomas nickte.
„Und wir können einigermaßen sicher sein, dass wir das Schlimmste schon gesehen haben. Egal, was auf den zwei anderen Videos zu sehen ist, er wird ihr nichts angetan haben. Also rein physisch, meine ich. Wobei ich mich wirklich frage, wieso ihr Angriff auf ihn und die anschließende Flucht nicht zu sehen war. Es war das letzte Video auf der Kamera.“
„Vielleicht hat er nochmal geübt und dabei vergessen, die Kamera einzuschalten?“, mutmaßte Sarah.
„Das scheint mir im Moment die einzig logische Erklärung zu sein“, pflichtete Thomas ihr bei. „Komm, lass uns an der Tankstelle einen Snack holen und dann die Videos weiter durchsehen. Ich