Zelte, eine Gruppe von drei Speise- und Bierwirtschaften an der Spree, die in zeltförmigen Gebäuden untergebracht waren. Die Gartenlokale gehörten lange Zeit zu den beliebtesten Ausflugszielen der Berliner und wurden auch später, als der Tiergarten längst Teil der Stadt geworden war, gern besucht. und trinkt seinen Kaffee und sieht zu, wie sie Skat spielen oder Schach, und lacht so ganz still vor sich hin, wenn ein reicher Budiker mit seinem Wagen vorfährt und seinem Pferd ein Seidel geben läßt. Und wenn er damit fertig ist, dann schlendert er so durch den Tiergarten hin bis an den Schiffbauerdamm ran, und dann kommt er über die Brücke und steigt die drei Treppen rauf und mietet. Ich will keinen Zeisig mehr im Bauer haben, wenn es nicht so kommt, wie ich sage.«
Mathilde behielt recht. Ob der Mann mit dem Vollbart in den Zelten gewesen war, entzieht sich der Feststellung, aber so viel steht fest, daß er zwischen fünf und sechs wieder oben bei Möhrings war und mietete.
»Meine Sachen stehen noch auf dem Bahnhof hier drüben. Hier ist meine Karte. Sie können vielleicht jemand rüberschicken und sagen lassen, daß ein Kofferträger oder ein Dienstmann sie rüberbringt. Ich will noch einen Freund besuchen, und wenn ich wiederkomme, hoff ich alles vorzufinden.«
Frau Möhring versprach alles. Als er fort [war], sagte Mathilde: »Siehst du, Mutter. Wer hat recht? Du wirst auch noch hören, daß er in den Zelten war.«
DRITTES KAPITEL
Die Sachen kamen, ein Koffer und eine große Kiste, und als Mutter und Tochter die Kiste bis dicht ans Fenster geschoben, den Koffer aber auf einen Kofferständer gestellt hatten, zogen sie sich in ihr an der linken Seite des Entrees gelegenes Wohnzimmer zurück. Es sah sehr ordentlich darin aus und auch nicht ärmlich. Vor dem hochlehnigen Kissensofa lag ein Teppich, Rosenmuster, und neben dem Stehspiegel mit dem Riß in der Mitte standen zwei Ständer, in die Blumentöpfe, ein roter und ein weißer Geranium, gesetzt waren. Auf einem Mahagonischrank stand ein Makart-BouquetMakart-Bouquet: ein Strauß von getrockneten Blumen, Gräsern, Schilf und Palmenzweigen, der ein beliebter Ziergegenstand in der ›guten Stube‹ der Gründerzeit war. Benannt nach dem österreichischen Maler Hans Makart (1840-1884); dessen schwülstig-pathetische Bilder dem Geschmack der Gründerjahre entsprachen., neben dem Schrank eine Hänge-Etagere mit einer geschweiften Perlenstickerei. Der weiße Ofen war blank, die Messingtür noch blanker, und zwischen Ofen und Tür an einer Längswand, dem invaliden Sofa gegenüber, stand eine Chaiselongue, die vor kurzem erst auf der Auktion eines kleinen Gesandten erstanden war und nun das Schmuckstück der Wohnung bildete. Daneben ein ganz kleiner Tisch mit einer Pendeluhr darauf, die einen merkwürdig lauten Schlag hatte.
Mathilde stellte sich vor den Spiegel, um sich den Scheitel etwas glattzustreichen, denn ihr Haar war sehr dünn und hatte eine Neigung, sich in Streifen zu teilen, Mutter Möhring aber setzte sich auf das Sofa, grad aufrecht, und sah nach der Wand gegenüber, wo ein PifferaroPifferaro: Die Pifferari, italienische Hirten aus den Abruzzen, zogen zur Weihnachtszeit in malerischem Aufzug nach Rom und musizierten mit Dudelsack und Schalmei (Piffera) vor den Madonnenbildern. Auch Bezeichnung für einen Straßensänger. auf einem Felsen saß und, seinen Dudelsack blasend, einfältig und glücklich in die Welt sah. Mathilde sah im Spiegel, wie die Mutter so steif und aufrecht dasaß, und sagte, ohne sich umzudrehn: »Warum sitzt du nu wieder auf dem harten Sofa und kannst dich nicht anlehnen. Wozu haben wir denn die Chaiselongue?«
»Na, doch nicht dazu.«
»Freilich dazu. Freilich, und war noch dazu gar kein Geld. Und nu denkst du gleich, du ruinierst es und sitzt ein Loch hinein. Ich hab es mir gespart und habe mich gefreut, als ich dir's aufbaun konnte.«
»Ja, ja, Thilde, du meinst es gut.«
»Und Rückenschmerzen hast du immer und klagst in einem fort. Und doch willst du nicht drauf liegen. Und wenn du noch recht hättest. Aber es ruiniert nicht, und wovon sollt es auch, du wiegst ja keine hundert Pfund.«
»Doch, Thilde, doch.«
»Und wenn auch; je eher das Ding eine kleine Sitzkute hat, desto besser; so steht es bloß da wie geliehn und als graulten wir uns, uns draufzusetzen. Und so schlimm ist es doch nicht, wir haben ja doch unser Auskommen und bezahlen unsre Miete mit'm Glockenschlag. Also warum machst du dir's nicht bequem. Und dann sieht es auch besser aus, wenn man so sieht, es ist in Dienst. Der Spiegel ist alt, und das Sofa ist alt, und da darf die Chaiselongue nicht so neu sein. Das paßt nicht, das stört, das ist gegen's Ensemble.«
»Gott, Thilde, sage nur nicht so was Franzö'sches; ich weiß dann immer nicht recht. Zu meiner Zeit, da war das alles noch nicht so, und mein Vater wollte von Schule nichts wissen. Na, du weißt ja. Wohin man kuckt, immer hapert es. Sieh mal hier seine Karte. Hugo Großmann. Na, das versteh ich, aber nu kommt sein Titel oder was er ist, und da weiß ich nicht, was soll das heißen Cand. jur.?«
»Das heißt, daß er Kandidat ist.«
»Soso, na, das ist gut, dann ist es ein Prediger oder wird einer.«
»Nein, dieser nicht. Dieser is bloß ein Rechtskandidat. Das heißt soviel als wie, er hat ausstudiert und muß nun sein Examen machen, und wenn er das gemacht hat, dann ist er ein Referendarius. Er ticktackt jetzt so hin und her zwischen Student und Referendarius.«
»Na, wenn er nur bleibt. Glaubst du, daß er bleibt?«
»Natürlich bleibt er.«
»Ja, du bist immer so sicher, Thilde. Woraus willst du wissen, daß er bleibt?«
»Ach, Mutter, du siehst auch gar nichts. Wo der mal sitzt, da sitzt er. Der ist bequem. Und eh der wieder auszieht, da muß es schon schlimm kommen. Und schlimm kommt es bei uns nicht. Wir sind artig und manierlich und immer gefällig und laufen alle Gänge und sehen bloß, was wir sehen wollen.«
»Glaubst du, daß er...«
»I, Gott bewahre. Der is wie Gold. Mit dem kann man drei Tage und drei Nächte fahren. Einen so Anständigen haben wir noch gar nicht gehabt. Und dann mußt du bedenken, er is vorm Examen, und wir haben kein Klavierspiel. Auf dem Hof das bißchen Leierkasten, das hört er nicht. Und ich will dir noch mehr sagen, Mutter; der bleibt nicht bloß, der bleibt auch lange. Denn sehr anstrengen wird er sich nicht. Er sieht so recht aus wie ›Kommst du heute nicht, so kommst du morgen.‹ Und vielleicht morgen auch noch nicht.«
Hugo Großmann, der noch keine Schlüssel hatte, war drei Minuten vor zehn nach Hause gekommen und [hatte] für alles, was ihm noch angeboten wurde, gedankt; er sei sehr müde, vorige Nacht unterwegs, und sei auch noch soviel andres. Mutter Möhring, die sich noch einen Augenblick im Entree zu schaffen machte, hörte noch, daß er das Streichhölzchen strich, und sah den Lichtschimmer, der gleich danach unter der Tür weg bis in das Entree fiel. Dann hörte sie, daß er sich die Stiefel mit einem raschen Ruck auszog, wie einer, der schnell ins Bett will, und keine Minute mehr, so war es wieder dunkel.
Der nächste Tag war so schön wie der vorige. Möhrings waren Frühaufs, und heute waren sie schon um sechs auf, weil sie doch nicht wissen konnten, ob ihr Mieter nicht ein Frühauf sei.
»Ich glaube nicht, daß er ein Frühauf ist«, sagte Mathilde, »aber man kann doch nicht wissen. Und in der ersten Nacht schlafen viele so unruhig.«
Es war wohl schon acht, als Mathilde das aussprach und hinzusetzte: »Du sollst sehn, Mutter, der hat einen Bärenschlaf. Um den brauchst du dir die Nacht nicht um die Ohren zu schlagen, und von Weckeraufziehn is nu schon gar keine Rede mehr. Na, mir recht. Wenn erst Winter ist, schlaf ich auch gern aus und warte lieber mit meinem Kaffee. Bloß, daß man um acht die ausgesuchten Semmeln kriegt.«
Unter diesen Worten stand sie auf und sah nach der kleinen Pendeluhr. Es war schon ein paar Minuten über halb neun.
»Mutter, ich werde doch wohl klopfen müssen. Ich hatte ihn so auf neun Stunden taxiert, aber nun ist es schon zehn und eine halbe. Was meinst du?«
»Versteht sich; es kann ihm ja auch was passiert sein.«
»Gewiß, kann. Aber es wird wohl nicht.«
Um ein Uhr trat der neue Mieter bei Möhrings