Pflaster. Heidmann war froh, denn ein lädiertes Kostüm zu Beginn der Saison wäre eine Katastrophe.
„Sorry, das tut mir leid“, rief Heidmann und versuchte, dem Mann aufzuhelfen.
Der schien für einen Moment verwirrt und starrte ihn an. Dann fasste er sich wieder.
„Kannst du nicht aufpassen, du Arschloch?“
Der Mann stand auf und nahm die Tasche an sich, die ihm sehr wichtig schien. Dann beschimpfte er ihn nochmals und rannte humpelnd davon.
Heidmann ließ sich von diesem unschönen Zusammenstoß nicht die Laune verderben. Er nahm sein Handy und wählte.
„Servus Heiko. Mein Besuch war ein voller Erfolg, schon morgen früh kann es losgehen. Wie war es bei dir?“
„Tote Hose, bei der Familie ist nichts zu holen. Soll ich dich morgen begleiten?“
„Nein, das mache ich allein. Wir hören uns!“ Heidmann sagte kein Wort über das, was eben geschehen war, das hatte er bereits vergessen.
Dass das noch ein schreckliches Nachspiel haben würde, konnte er in diesem Moment nicht wissen.
2.
Montag, 29. November
„Die Vorweihnachtszeit ist die schlimmste Zeit des Jahres“, brummte der neunundfünfzigjährige Hans Hiebler. Trotz der niedrigen Temperaturen sah er aus, als käme er direkt aus dem Urlaub auf einer traumhaft schönen Insel, wo er jetzt sehr viel lieber wäre. Der Winter war nichts für ihn, aber daran konnte er nichts ändern. Seine schlechte Laune wurde durch seinen Freund und Kollegen Leo Schwartz noch schlimmer, denn der lief seit Tagen mit einer Trauermiene herum, die einem echt aufs Gemüt schlug. Dazu kam, dass die Weihnachtszeit auch Erinnerungen an eine glückliche Kindheit und an die längst verstorbenen Eltern hervorrief, was ihn melancholisch stimmte. In diesen Wochen gab es immer die verrücktesten Verbrechen, mit denen sie sich als Kriminalbeamte herumschlagen mussten. Er war froh, wenn Silvester vorbei war und alles wieder normal lief.
„Einbrüche, Diebstähle und Tätlichkeiten, wohin das Auge blickt. Das Einbruchsdezernat hat es mit zwei Einbrüchen bei Juwelieren in Mühldorf und Neuötting zu tun, die an Dreistigkeit nicht zu überbieten sind. Die Diebe fuhren mit Fahrzeugen einfach in die Schaufenster und steckten alles ein, was sie in die Finger bekamen. Allein der Sachschaden geht in die Millionen. Manche Menschen schrecken echt vor nichts zurück. Warum kann die Weihnachtszeit nicht einfach mal ruhig ablaufen?“ Rudolf Krohmer, der Leiter der Mühldorfer Kriminalpolizei, schüttelte den Kopf. Er starrte in das Licht der ersten Kerze auf dem spärlichen Adventskranz. Wer hatte sich dafür entschieden, dieses hässliche Ding hier zu platzieren? Er grabschte mit den Fingern an die Tannenzweige und zuckte zusammen. Das war ein künstlicher Kranz. Angewidert zog er die Hand zurück. „Weihnachten ist früher so schön gewesen. Wo ist die besinnliche Zeit geblieben, in der man sich auf die Familie und das Wesentliche konzentrierte?“
„Diese Zeit gibt es doch schon lange nicht mehr“, maulte der siebenundfünfzigjährige Leo Schwartz. Seit einigen Tagen hatte er echt schlechte Laune. Zum einen hatte ihm seine Vermieterin und Ersatzmutter Tante Gerda vor zehn Tagen mitgeteilt, dass sie und Christine Künstle, die vor zwei Monaten tatsächlich auf dem renovierten Bauernhof eingezogen war, Weihnachten auf den Bahamas verbringen wollten. Als wäre das nicht genug, hatte seine Verlobte Sabine Kofler eine Reportage in Australien angenommen, die sie vermutlich über die Weihnachtsfeiertage festhielt. Die Aussicht, Weihnachten einsam und verlassen verbringen zu müssen, gefiel ihm absolut nicht, was er aber niemals zugeben würde. Er versuchte, Sonderschichten an sich zu reißen, um somit diesem Friede-Freude-Eierkuchen-Getue aus dem Weg zu gehen. Und er hoffte auf einen spannenden Fall, der ihn beschäftigte – aber den fand er in den vorliegenden Fällen nicht, denn die gingen allesamt die Kriminalpolizei nichts an. Wenn sich an der Situation nicht bald etwas änderte, musste er über Weihnachten verreisen, aber darauf hatte er auch keine Lust. Wenn er nicht bei der Mordkommission, sondern beim Einbruchsdezernat arbeiten würde, hätte er es wenigstens mit diesen spektakulären Einbrüchen zu tun. Aber die Fälle, die hier auf dem Tisch lagen, waren allesamt langweilige Routinearbeit, die nichts mit der Mordkommission zu tun hatten.
„Wie dem auch sei: Zum Glück gibt es genug alte Fälle, die überprüft gehören.“ Krohmer freute sich, denn dann konnte man das Jahr doch noch rund abschließen und diese Fälle endgültig ad acta legen.
„Nicht schon wieder!“, stöhnte die neunundzwanzigjährige Diana Nußbaumer, die wieder wie aus dem Modekatalog aussah. Krohmer und seine alten Fälle. Sie hasste diese Aufgabe, mit der der Chef immer ums Eck kam, wenn sonst nichts anlag. Das war eine trockene und sehr undankbare Aufgabe, denn Kollegen, die diese Fälle bearbeitet hatten, fühlten sich immer auf den Schlips getreten, was sie gut nachvollziehen konnte.
Auch Leo und Hans waren nicht begeistert, was sie auch zum Ausdruck brachten.
Einzig Alfons Demir, der neue Kollege im Bunde, hatte nichts gegen Büroarbeit. Es war kalt, außerdem schneite es immer wieder. Kein Wetter, in dem man sich gerne draußen aufhielt. Alfons Demir, den alle nur Alf nannten, hatte sich gut eingelebt. Nach dem Tod seines Vaters war er nach Landshut gezogen, um sich um die Mutter zu kümmern, die außer ihm niemanden mehr hatte. Seit er bei ihr lebte, blühte sie regelrecht auf, was ihn täglich freute, denn die verwirrten Momente seiner Mutter wurden tatsächlich weniger. Die Arbeit in Mühldorf gefiel ihm sehr. Obwohl sein erster Fall hier sehr turbulent gewesen war, mochte er nach seinem Umzug und der Eingewöhnungsphase die ruhigeren Tage, in denen sie sich seit Wochen befanden. Und er freute sich auf Weihnachten, das er als Moslem sehr gerne mit seiner katholischen Mutter verbrachte. Kirche und Glaube standen bei der Familie Demir noch nie an erster Stelle, deshalb störte er sich nicht an den Ritualen, die er seit seiner Kindheit kannte und auf die seine Mutter immer großen Wert legte.
Gerade, als Krohmer und die Kriminalbeamten aufstehen wollten und sich gedanklich an die bevorstehende Arbeit gewöhnt hatten, klopfte es an der Tür. Es war ein Uniformierter, der Krohmer einen Zettel reichte und gleich darauf wieder verschwand. Ungläubig las Krohmer die wenigen Zeilen.
„Offenbar müssen wir die alten Fälle verschieben“, las Krohmer die Information und sah die Kollegen an. „Es gibt einen Schwerverletzten in Neuötting. Er hat offenbar einen Einbrecher überrascht und wurde niedergeschlagen.“
„Gibt es einen Hinweis auf den Täter?“
„Hier steht: Es war der Nikolaus.“
3.
Die Wohnung war weiträumig abgesperrt worden. Das hatte Friedrich Fuchs, der Leiter der Spurensicherung, veranlasst. Niemand wagte es, den Tatort zu betreten, denn alle kannten den fünfundvierzigjährigen Fuchs und seine ungezügelten Wutausbrüche, denen sich niemand freiwillig aussetzen wollte. Der Verletzte befand sich im Krankenwagen und wurde versorgt.
„Ist er ansprechbar?“, wandte sich Leo an den Notarzt.
„Nein, keine Chance. Stellen Sie sich darauf ein, dass das auch noch dauern wird – wenn er überhaupt wieder zu sich kommt. Die Kopfverletzung gefällt mir nicht. Können wir fahren?“
„Hatte er Papiere bei sich?“
„Nein. Die Identität ist geklärt, sprechen Sie mit einem Ihrer Kollegen. Der dort hinten war vor uns da“, zeigte er auf einen Uniformierten und schloss die Tür des Rettungswagens, der sich dann mit Blaulicht und Martinshorn entfernte.
Leo wies sich gegenüber dem Kollegen aus.
„Sie sind mir nicht unbekannt, Herr Schwartz. Sie erinnern sich an mich?“