Jules Verne

Zehn Jahre später


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die Montalais mit übermütigem Lachen rief: »Ei nun, ich habe keine Eltern mehr.«

      Doch mitten in ihrem Lachen unterbrach sie sich und horchte mir ernster Miene nach der Tür hin. »Mein Gott, es kommt jemand,« sagte sie. – »Wer kann das sein?« rief Luise ängstlich. – »Nach dem schwerfälligen Schritt zu urteilen, ist es Herr Malicorne,« sagte die Montalais. »Nun, der ist nicht eifersüchtig.« – »Nein,« rief Luise erschrocken, »er ist es nicht! Es ist meine Mutter – ich kenne ihren Schritt.« – Frau von Saint-Rémy!« sagte Rudolf betroffen. »Wo soll ich mich verbergen?« – »Ja, wahrhaftig,« sprach die Montalais, »nun erkenne ich auch die klappernden Stelzschuhe der Frau Mama. Nur ruhig Blut, Herr Graf! Das Fenster hier ist leider fünfzig Fuß hoch und geht auf einen gepflasterten Hof hinaus. Aber Sie können hier in diesen Schrank eintreten, der ist wie gemacht dafür.«

      Frau von Saint-Rémy stieg rascher als gewöhnlich die Treppe hinauf und trat eben ein, als die Montalais den Schrank schloß und sich an die Tür lehnte. – »So finde ich dich doch hier, Luise?« rief Frau von Saint-Rémy in ungehaltenem Tone. – »Ja, Mutter,« antwortete Luise kleinlaut, als wäre sie über einem schweren Vergehen ertappt worden. – »Bitte, nehmen Sie doch Platz, gnädige Frau,« sagte die Montalais, ohne vom Schranke wegzutreten, doch Frau von Saint-Rémy lehnte in etwas spitzem Tone ab. »Ich danke, Fräulein Aure,« sagte sie. »Komm rasch mit mir, Kind, du mußt anfangen, Toilette zu machen,« wendete sie sich an Luise. »Wissen Sie denn etwa die große Neuigkeit noch nicht?« fragte sie mit einem Blick auf die Montalais. »Sollte wirklich noch niemand bei Ihnen gewesen sein?«

      Dabei sah sie nach dem Tische hin, und Luise, ihrem Auge folgend, sah nun zu ihrem Entsetzen, daß Rudolf dort seinen Hut hatte liegen lassen. Die Montalais stellte sich rasch vor den Tisch, und Frau von Saint-Rémy fuhr fort, als wenn sie wirklich nichts gesehen hätte: »Es ist eben ein Eilbote mit der Nachricht angekommen, daß heute abend der König eintreffen wird. Da müssen sich alle jungen Damen schön machen. Also komm, Luise!«

      Das junge Mädchen folgte der Mutter, die auf dem Wege zur Tür noch leise die Worte sprach: »Ich habe dir doch verboten, zur Montalais zu gehen! Und wem gehört der Hut auf dem Tische? Sicher diesem Tagedieb, dem Malicorne. Ein Ehrenfräulein darf mit solchem Taugenichts auf keinen Fall –«

      Die andern Worte verloren sich auf dem Korridor, so daß die Montalais sie nicht mehr hörte. Sie zuckte leichthin die Achseln und ließ Rudolf aus seinem Versteck heraus. – »Verlassen Sie das Schloß so rasch wie möglich,« sagte sie, »damit uns durch irgendwelche Indiskretion der guten Dame nicht etwa Unannehmlichkeiten entstehen. Leben Sie wohl!« – »Werde ich von Luise hören?« fragte Rudolf. – »Gewiß, gewiß. Nur Mut! Hier in Blois kümmern wir uns nicht allzusehr um Papas und Mamas Einwilligung. Fragen Sie nur Malicorne.«

      Rudolf schlich in den Hof, holte sein Pferd, schwang sich in den Sattel und ritt spornstreichs davon.

      Er folgte der wohlbekannten Straße, an die sich viele ihm teure Erinnerungen knüpften, und bemerkte bald das spitze Dach, die beiden Türmchen und die Schwärme von Tauben, die sie umflogen. Ein Jahr war es nun her, daß er seinen Vater nicht wiedergesehen hatte, und diese ganze Zeit über war er beim Prinzen Condé gewesen. Nach den stürmischen Zeiten der Fronde hatte Condé sich feierlich mit dem König ausgesöhnt. Solange Feindschaft zwischen ihnen bestand, war Graf von Bragelonne dem Prinzen ferngeblieben und hatte, statt an dessen revolutionären Unternehmungen teilzunehmen, unter Turenne für den König gekämpft. Condé war Bragelonne sehr zugetan und verübelte ihm diese Königstreue nicht; vielmehr nahm er ihn nach der Aussöhnung mit dem Hofe mit Freuden bei sich auf. So jung Rudolf auch noch war, so hatte er doch unter Turenne und unter Condé bereits in zehn siegreichen Schlachten mitgefochten und durfte sich einen Soldaten nennen, dessen Schild durch keine Niederlage befleckt war.

      Rudolf fand die Gartentür offen und ritt ohne weiteres hinein, ungeachtet der zornigen Gebärden eines alten Mannes, der am Wegesrande stand und offenbar erst um Erlaubnis zum Eintritt gefragt sein wollte. Der Alte arbeitete an einem Blumenbeete und trat entrüstet auf den Reiter zu; doch kaum hatte er dessen Gesicht gesehen, so warf er sein Arbeitszeug weg und rannte mit Zeichen höchster Freude auf das Haus zu. Der Graf ritt ruhig weiter, gelangte in den Hof, gab sein Pferd einem Knecht, ging ins Haus und trat in das Zimmer des Grafen de la Fère.

      Der Graf war noch immer eine schöne stattliche Erscheinung, obwohl nun sein Haar fast weiß geworden war und der Schnurrbart stark ins Graue spielte. Trotz des Alters hatte der Mann, dem so mancher erlauchte Mund unter dem Namen Athos Lob und Dank gesprochen, noch nichts von seinem imposanten Aeußern eingebüßt. – Rudolf umarmte ihn so zärtlich und so stürmisch, daß der Graf sich nicht loszumachen vermochte. – »Rudolf!« rief er endlich, einen Schritt zurücktretend. »Du hier? Hast du Urlaub oder ist etwas passiert?« – »Ich war als Abgesandter des Königs in Blois. Majestät will seinem Oheim einen Besuch abstatten.« – »So hast du Monsieur gesehen? Ich wünsche dir Glück dazu.« – Rudolf verneigte sich. Athos sah ihm prüfend ins Auge. – »Wen hast du sonst noch in Blois gesehen?« – »Ich habe auch Madame gesehen, Vater,« antwortete der junge Mann. – »Ja doch, aber an die dachte ich dabei nicht,« versetzte Athos mit einem strengeren Blick. »Oder verstehst du mich nicht, Rudolf?«

      »Ich verstehe Sie sehr wohl, Vater,« erwiderte Rudolf errötend. »Auch sinne ich nicht auf Ausflüchte, wenngleich ich nicht sofort eine Antwort bereit habe.« – »Also hast du Fräulein von Lavallière gesehen?« fragte der Vater. – »Ja. Ich wußte nicht, daß sie im Schlosse zu Blois sei, der Zufall führte mich zu ihr.« – »Der Zufall?« entgegnete der Graf de la Fère. »Und in welcher Gestalt erschien dir dieser Zufall?« – »In der Gestalt eines Fräuleins von Montalais.« – »Was ist das für eine Dame?« – »Ich habe sie nie zuvor gesehen und weiß nur, daß sie Ehrendame der Herzogin von Orléans ist.« – »Genug, ich habe dir geraten, Fräulein von Lavallière aus dem Wege zu gehen. Wenn nun der Zufall seine Hand im Spiele hatte, so kann ich dir ja wohl keinen Vorwurf machen. Mein Wunsch ist es und bleibt es, daß du sie nicht besuchst. Merke dir das ein für alle Mal, Rudolf. Und nun von etwas anderm! Kehrst du gleich in deinen Dienst zurück?« – »Nein, lieber Vater, ich kann den ganzen Tag bei Ihnen weilen. Der Prinz hat mir weiter keinen Auftrag gegeben, als den, den ich nun erledigt habe.« – »Er und der König sind wohlauf?« – »Wie immer. Vater.« – Nach Mazarin erkundigte sich der alte Herr nicht – er hatte schon früher nie nach ihm gefragt.

      »Es freut mich, daß ich dich einen ganzen Tag bei mir habe – so will ich mich auch durch nichts abhalten lassen,« rief er. »Doch da ist ja unser alter Grimaud. Komm her, Mann, laß dich von dem Burschen hier umarmen.« – Das ließ sich Grimaud nicht zweimal sagen, eilte herbei und drückte den Jüngling an die Brust. Als dann Vater und Sohn in den Garten gingen, sah er ihm mit Tränen im Auge nach. »Wie groß er geworden ist!« murmelte er und strich seinen weißen Knebelbart. Und er hatte recht. Rudolf reichte mit dem Kopfe fast an den Querbalken der Tür heran.

      2. Kapitel. Der Unbekannte

      In Blois herrschte große Aufregung, wurde doch der König mit dem gesamten Hofstaat erwartet, und wo sollten alle diese Menschen, 100 Reiter, 10 Kutscher, 200 Pferde und ebensoviele Diener und Hofleute untergebracht werden? Mit dieser Frage beschäftigte sich alsbald die ganze Stadt. Im Schlosse gar ging alles Hals über Kopf, denn die Zeit für die Vorbereitungen war knapp bemessen, und es galt, Wildbret zu holen, Fische zu beschaffen und Blumen zur Verzierung der Tafel zu besorgen. Eine ganze Schar von armen Leuten wurde aufgeboten, die die Höfe und Gärten ausfegen mußten.

      Im untern Teile der Stadt, kaum hundert Schritte vom Schlosse entfernt, stand in der schönen Altgasse ein ehrwürdiges Haus mit spitzem Giebel, das im ersten Stock drei, im zweiten zwei, im dritten nur ein Fenster hatte. Der Sage nach hatte zur Zeit Heinrichs III. ein Stadtrat darin gewohnt, der auf Betreiben der Königin Katharina erdrosselt worden war. Nachher hauste darin ein Italiener namens Cropoli, ein ehemaliger Koch des Marschalls von Ancre. Der Mann hatte aus dem Hause eine kleine Restauration gemacht und war besonders wegen seiner schmackhaften Maccaroni weit und breit bekannt geworden, namentlich seit die Königin Maria von Medici, die im Schlosse gefangen gewesen, sich einmal eine Schüssel voll von