Da haben Sie Nordamerika, die ewige Union. Da haben Sie schließlich die Karikatur Schleswig-Holstein … Und was hat die Zivilisation in uns besänftigt? Die Zivilisation bringt im Menschen nur Differenziertheit der Empfindungen hervor und … nichts weiter. Aber gerade durch die Pflege dieser Differenziertheit wird der Mensch womöglich noch so weit gehen, daß er auch im Blutvergießen einen Genuß finden wird. So etwas ist schon bei ihm vorgekommen. Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß die schlimmsten Blutvergießer fast ausnahmslos höchst zivilisierte Herrschaften waren, denen all diese Attilas und Stenka Rasins nicht das Wasser reichen konnten? Und wenn sie nicht so auffallen wie Attila und Stenka Rasin, so rührt das nur daher, daß sie allzu häufig vorkommen, allzu gewöhnlich sind, allzu vertraut. Jedenfalls wurde der Mensch durch die Zivilisation, wo nicht noch blutrünstiger, so doch gewiß blutrünstig auf üblere, gemeinere Art. Früher hielt er das Blutvergießen für Gerechtigkeit und vertilgte mit ruhigem Gewissen, wen er zu vertilgen hatte; jetzt aber halten wir das Blutvergießen zwar für eine Gemeinheit, können aber von dieser Gemeinheit nicht lassen und treiben es ärger denn je. Was ist schlimmer? – Entscheiden Sie selbst. Man erzählt, Kleopatra (ich bitte das Beispiel aus der römischen Geschichte zu entschuldigen) habe besonders gern mit goldenen Nadeln in die Brüste ihrer Sklavinnen gestochen und sich an ihren Schreien und Krämpfen ergötzt. Sie werden einwenden, daß dies in einem relativ barbarischen Zeitalter gewesen sei; daß wir auch jetzt noch in einem barbarischen Zeitalter leben, denn (wiederum relativ gemeint) auch jetzt steche man noch mit Nadeln, und daß der Mensch auch jetzt noch, obwohl er schon gelernt habe, zuweilen klarer zu erkennen als in barbarischen Zeiten, bei weitem nicht gewöhnt sei, so zu handeln, wie ihm Vernunft und Wissenschaft gebieten. Immerhin sind Sie vollkommen überzeugt, daß er sich unbedingt daran gewöhnen werde, sobald sich gewisse alte dumme Angewohnheiten verlieren und gesunder Verstand nebst Wissenschaft die menschliche Natur vollständig umerzogen und normal ausgerichtet haben würden. Sie sind überzeugt, der Mensch werde dann von selbst, gutwillig seine Fehler unterlassen und zwischen dem eigenen Willen und seinen normalen Interessen sozusagen nicht mehr unterscheiden. Noch mehr: dann, werden Sie sagen, wird die Wissenschaft selbst dem Menschen beibringen (wenn das auch schon Luxus ist, meiner Meinung nach), daß er in Wirklichkeit weder Wille noch Laune besitzt, ja nie besessen hat, und daß er selbst nichts anderes ist als eine Art Klaviertaste oder Drehorgelstift; und darüber hinaus ist die Welt von Naturgesetzen bestimmt; so daß alles, was er auch tun mag, durchaus nicht nach seinem Wunsch und Willen, sondern ganz von alleine, nach Naturgesetzen abläuft. Folglich braucht man nur diese Naturgesetze zu entdecken, und der Mensch wird sogleich für seine Handlungen nicht mehr verantwortlich sein und ein ungemein bekömmliches Leben beginnen. Selbstverständlich wird dann alles menschliche Handeln nach diesen Gesetzen errechnet werden, mathematisch, in einer Art Logarithmentafel, bis 108000, erfaßt und in einen Kalender eingetragen; oder noch besser, es werden verschiedene wohlgemeinte Werke erscheinen, etwa in der Art heutiger enzyklopädischer Lexika, in denen alles so genau ausgerechnet und aufgeführt ist, daß es auf der Welt hinfort weder Handeln noch Abenteuer geben wird. Dann – das sagen immer noch Sie, meine Herrschaften – werden die neuen wirtschaftlichen Verhältnisse eintreten, fix und fertig und ebenfalls mit mathematischer Genauigkeit vorausberechnet, so daß im Handumdrehen alle möglichen Probleme verschwinden werden, nämlich deshalb, weil man alle möglichen Lösungen bereits besitzt. Dann wird man einen Kristallpalast errichten. Dann … Nun, mit einem Wort, dann kommt der Wunschvogel geflogen. Selbstverständlich kann man keinesfalls garantieren (das sage jetzt ich), daß es dann zum Beispiel nicht furchtbar langweilig sein wird (denn was soll man noch tun, wenn alles schon nach der Tabelle berechnet ist), dafür aber wird alles außerordentlich vernünftig zugehen. Selbstverständlich, auf was alles kann man nicht aus Langeweile verfallen! Auch mit goldenen Nadeln wird doch aus Langeweile gestochen, und das wäre nicht einmal das schlimmste. Schlimm ist nur (das sage immer noch ich), daß dann die goldenen Nadeln womöglich erwünscht sein werden. Denn der Mensch ist dumm, phänomenal dumm; das heißt, wenn er auch durchaus nicht dumm ist, so ist er doch undankbar, so undankbar, daß man seinesgleichen nicht finden kann. Es sollte mich nicht im geringsten wundern, wenn, inmitten der künftigen allgemeinen Vernünftigkeit, mir nichts, dir nichts plötzlich irgendein Gentleman auftauchen und ohne Anstand oder, genauer gesagt, mit einer rückschrittlichen und höhnischen Miene, die Hände in die Seiten gestemmt, uns allen vorschlagen würde: Wie wäre es, meine Herrschaften, sollten wir nicht diese ganze Vernünftigkeit mit einem Fußtritt zertrümmern, einzig in der Absicht, all diese Logarithmen zum Teufel zu jagen und allein nach unserem unvernünftigen Willen zu leben! Das wäre noch nicht schlimm, aber leider wird er zweifellos Gesinnungsgenossen finden: der Mensch ist nun einmal so geschaffen. Und das alles aus einem absolut unwesentlichen Grunde, den zu erwähnen überhaupt nicht lohnt: nämlich deshalb, weil der Mensch immer und überall, wer er auch sei, stets so zu handeln vorzieht, wie er will, und durchaus nicht so, wie ihm Vernunft und Vorteil diktieren; wollen aber kann man auch gegen den eigenen Vorteil, zuweilen ist es unbedingt notwendig (das ist nun meine Idee). Sein eigenes uneingeschränktes und freies Wollen, seine eigene, selbst die allerausgefallenste Laune, seine Phantasie, die zuweilen bis zur Verrücktheit verschroben sein mag – das, gerade das ist ja jener übersehene allervorteilhafteste Vorteil, der sich nicht klassifizieren läßt und durch den alle Systeme und Theorien fortwährend zum Teufel gehen. Und wie kommen diese Besserwisser darauf, daß der Mensch auf irgendein normales, irgendein tugendhaftes Wollen angewiesen ist? Woher wollen sie wissen, daß der Mensch auf irgendein unbedingt vernünftig-vorteilhaftes Wollen angewiesen ist? Der Mensch ist einzig und allein auf das selbständige Wollen angewiesen, was diese Selbständigkeit auch kosten und wohin sie auch führen mag. Nun, das Wollen, weiß der Teufel …
VIII
»Ha-ha-ha, aber das Wollen gibt es ja eigentlich gar nicht, wenn man es recht besieht!« unterbrechen Sie mich lachend. »Die Wissenschaft hat den Menschen heute schon so weit auseinanderanatomiert, daß bereits bekannt ist, daß der sogenannte freie Wille und das Wollen nichts anderes ist als …«
Warten Sie, meine Herrschaften, ich wollte selbst davon anfangen. Offen gestanden, ich bin direkt erschrocken. Ich wollte gerade ausrufen, daß das Wollen weiß der Teufel wovon abhängt und daß wir dafür unter Umständen Gott danken müssen, aber da fiel mir plötzlich die Wissenschaft ein und … und ich hielt den Mund. Da fingen Sie auch schon an. In der Tat, fände man wirklich einmal die Formel unseres Willens und unserer Launen, das heißt ihren Grund und das Gesetz ihrer Entstehung, ihrer Ausbreitung, ihrer Richtung in diesem und in jenem Fall usw. usw., das heißt die richtige mathematische Formel – so würde der Mensch womöglich augenblicklich aufhören zu wollen, ja, er würde sogar mit Sicherheit aufhören. Was ist denn das für ein Vergnügen, nach einer Tabelle zu wollen? Das wäre ja auch noch nicht alles: er verwandelte sich dann augenblicklich aus einem Menschen in einen Drehorgelstift oder etwas Derartiges; was ist denn ein Mensch ohne Wünsche, ohne Willen und ohne Begehren anderes als ein Stiftchen an einer Drehorgelwalze? Was meinen Sie? Rechnen wir doch die Wahrscheinlichkeit durch – kann das geschehen oder nicht?
»Hm …!« meinen Sie daraufhin, »unser Begehren ist meistenteils fehlerhaft infolge der fehlerhaften Auffassung von unseren Vorteilen. Darum streben wir zuweilen nach barem Unsinn, weil wir infolge unserer Dummheit in diesem Unsinn den leichtesten Weg zum Erlangen irgendeines vermeintlichen Vorteils sehen. Nun, wenn aber alles erklärt, schwarz auf weiß ausgerechnet sein wird (was durchaus anzunehmen ist, denn es wäre ekelhaft und sinnlos, vorauszusetzen, daß manche Naturgesetze für den Menschen unbegreiflich bleiben werden), dann wird es selbstverständlich dieses sogenannte Wollen nicht mehr geben. Denn wenn das Begehren einmal mit der Vernunft vollständig zusammengefallen ist, so werden wir dann eben urteilen, nicht aber wollen, aus dem einfachen Grunde, weil man doch beispielsweise bei vollem Bewußtsein nichts Sinnloses wollen und somit wissentlich gegen seine Vernunft handeln und Unvorteilhaftes wünschen kann … Da man aber alle Urteile und auch alles Begehren tatsächlich einmal berechnet haben wird, denn irgendeinmal wird man die Gesetze unseres sogenannten freien Willens entdecken, wird es folglich einmal eben zu so einer Art Tabelle kommen, im Ernst, so daß wir wirklich nach dieser Tabelle wollen werden. Denn rechnet man mir zum Beispiel irgendwann vor und beweist, daß, wenn ich jemandem die Zunge herausgestreckt habe, ich dies einzig und allein deshalb tat, weil ich es nicht unterlassen konnte, und daß ich sie mit genau derselben