Cristina Fabry

Kirche im freien Fall


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an seinen Zorn versprühenden, kleinen, grauen Augen. So ein armes, kleines Würstchen war er gewesen. Gekümmert hatten sie sich um ihn, sich seine Geschichte angehört, seine kruden Ansichten, mit ihm diskutiert, ihn ihre Sorge spüren lassen, ihn gewarnt, als sie Kenntnis davon hatten, dass er auf einer Abschussliste stand. Sie hatte so sehr gehofft, dass er die Kurve kriegen würde, sich von dem Wahnsinn abwenden würde, in den er da geraten war. Neulich hatte sie ihn gegoogelt. Auf seiner Facebook-Seite war ein Foto von einem Nazi-Konzert zu sehen, ein moderner Reichsparteitag, alle streckten den rechten Arm schräg nach oben, straff, stählern und zum Töten bereit. Er war kein armes kleines Würstchen mehr. Er war eine arme große Wurst und absolut nicht mehr zu retten. Aber was wollte er bei ihr?

      „Anja Delacroix?“ fragte er und sprach ihren Nachnamen „Delakreuks“ aus. „Delacroix“, verbesserte sie ihn instinktiv.

      „Auch noch 'ne Franzosenschlampe.“, stieß er hervor. „Hab' ich dich endlich gefunden, du dreckige, linke Zecke. Ich hab's euch ja damals schon gesagt. Wir kriegen euch alle.“

      Wie kam er dazu nach fast dreißig Jahren hier vor ihrer Tür zu stehen? Sie überlegte schnell, was sie erwidern sollte, doch bevor sie antworten konnte, blickte sie schon in das kalte, schwarze, frisch geölte Metallrohr, spürte kurz so ein unangenehmes Ziehen, zuerst im Nacken, dann im ganzen Rücken, sah dann in das orangerote Mündungsfeuer. Der weiße Bademandel färbte sich rot. Wäre ihr Haar noch schwarz gewesen, hätte sie glatt als Schneewittchen durchgehen können.

      Auf ihrem Grabstein stand nichts. Ihre Asche wurde in einem Friedwald beigesetzt. Und die große Wurst wurde nicht erwischt. Dieses Mal nicht.

      Ziel unbekannt

      Warme Milch mit Kurkuma – entzündungshemmend und gar nicht schlecht – besser als Ingwer. Man soll ja auf die Heilkräfte der Natur setzen – Apotheke Gottes und so. Wann sehen wir uns wieder? Wie oft noch? Das Leben ist eine Ansammlung von Zufällen, da hängt nichts zusammen. Sinn ist eine Illusion; und ob ich jetzt krank werde oder gesund bleibe, sterbe oder lebe, liebe oder hasse, ist irrelevant. Ich kämpfe um meinen Platz, mein Wohlbefinden, mein Leben genau wie alle anderen. Mal gewinnt man, mal verliert man und am Ende steht immer der Tod.

      Sie kriegen mich nicht, dachte Corrie. Ich bin ihnen immer ein paar Schritte voraus. Sie halten mich für beherrschbar, berechenbar, besiegbar – aber sie irren sich. Andere von meinem Format verfolgen eine bestimmte Zielgruppe, besonders Schwache zum Beispiel. Ich töte wahllos – und sie finden die Tatwaffe nicht. Wenn sie den Mord entdecken, bin ich längst über alle Berge, bei den nächsten Opfern. Tausende habe ich schon erwischt – und es werden immer mehr. Niemand kann mir entkommen, wenn ich ihn haben will, das haben sie nur noch nicht begriffen. Ich werde die Erde heilen von diesem widerlichen Virus Mensch, damit die Wunden heilen, die Entzündungen abklingen können und die grüne Lunge wieder frei durchatmen kann.

      Hausmittel, Gebete, Gottvertrauen – das sollte helfen – und wenn nicht, dann sehen wir weiter. Wir sehen uns wieder, so oder so. Das Leben ist eine Perlenkette der Ereignisse: bunt, schön, abwechslungsreich, manchmal geschmacklos, individuell und oft überraschend. Ob ich jetzt gesund bleibe oder krank werde, lebe oder sterbe, ist irrelevant. Entscheidend ist, dass ich liebe und nicht hasse, dass ich meinen Platz finde und ihn würdig ausfülle, dass ich mein Wohlbefinden nicht über das der anderen stelle. Mal habe ich Glück, mal muss ich leiden genau wie alle anderen und am Ende steht immer das Leben.

      Die zehnte Plage

      „Jetzt ist es soweit. Die neunte Plage ist gekommen und bis zur zehnten wird es nicht mehr lange dauern, denn sie kehren noch immer nicht um. Kaum jemand erkennt die Zeichen.

      Die erste Plage hat schon in den Achtzigerjahren begonnen: AIDS hat im Laufe der Jahre mehrere Millionen Menschen getötet und bis heute gibt es weder Impfung noch Heilung – von zwei Ausnahmewundern abgesehen.

      Dann folgte die zweite Plage: Gletscher und Polareis begannen aufgrund der Erderwärmung deutlich zu schmelzen, die Weltmeeresspiegel stiegen an, bewohnte, pazifische Inseln versanken für immer.

      Die dritte Plage war das exorbitante Seebeben mit dem darauf folgenden, verheerenden Tsunami, der fast eine Viertelmillion Menschenleben gefordert und eine unglaubliche Spur der Verwüstung hinterlassen hat.

      Immer mehr Kriege haben weltweit für Vertreibung und Flucht gesorgt, die Geflüchteten mussten erbittert um einen neuen Platz und ihre Existenz kämpfen, viele haben den Kampf verloren und von denen, die fortan ihren Platz teilen mussten, wurden die neu hinzugekommenen Menschen als Bedrohung erlebt. Das war die vierte Plage.

      Die fünfte Plage war bald nicht mehr zu übersehen: unendliche Mengen von Plastik fand sich in den Weltmeeren, tötete Pflanzen und Tiere und gelangte in die Nahrungskette der Menschen, um sie krank zu machen.

      Wie von selbst kam nun die sechste Plage: überall schossen Faschisten und Populisten wie Pilze aus dem Boden und die Menschen in ihrer Torheit und Bosheit gaben ihnen Macht über sich.

      Die siebte Plage folgte auf den Fuß: Hitze und Trockenheit ließen die Ernten verbrennen und dezimierten die Trinkwasservorräte. Doch sie erkannten noch immer nichts.

      Die achte Plage brachte Stürme und Überschwemmungen, doch die Menschen machten wie gewohnt weiter und ignorierten die Warnungen des HERRN.

      Nun ist also die neunte Plage gekommen. Das Virus hält sie fest im Würgegriff, hat schon viele Tausende getötet und wird weiter töten. Die Mächtigen indes, die es auf welchem Weg auch immer in die Welt gebracht haben, nutzen die Angst und Unsicherheit, um die Massen unter ihre vollkommene Kontrolle zu bringen.

      Kein Zeichen der Einsicht bei den Menschen, keine Bereitschaft zur Umkehr, um für die Wiederkunft des HERRN bereit zu sein. Bald wird die zehnte Plage kommen: die Tötung aller Erstgeburten durch den Engel des HERRN. Und dieser Engel bin ich selbst.

      Ich hatte einen Traum – was sage ich – ein Gesicht, eine Vision, eine Offenbarung des HERRN. Er gab mir das spitze, zweischneidige, flammende Schwert in die Hand, eine Lilienblüte bildete Heft und Griff und ich hörte seine donnernde Stimme sagen: ‚Bereite dem HERRN den Weg, denn siehe, die Himmel sind nahe herbei gekommen, es ist an der Zeit und das Blut der Stammhalter der Verderbten soll den ausgedörrten Boden benetzen und ihm seine Fruchtbarkeit zurück bringen.‘

      Und ich sah mich selbst, wie ich all die Erstgeburten vernichtete und wie das Land sich rot färbte und wie dann überall das Grün aus dem Boden schoss und der Himmel blauer als blau wurde und die helle Sonne alles in goldenes Licht tauchte und die Seraphinen und Cherubim sangen mit glockenhellen Stimmen und der HERR selbst stieg aus den Himmeln und machte alles neu.“

      Renan hat die Verrückte im letzten Moment zu Boden gerungen, bevor sie Hakan das lange, spitze Fleischmesser in den Leib rammen konnte. Um sie herum stehen die Leute mit offenen Mündern, ihre Einkaufswagen schützend vor sich, wie eingefroren, als warteten sie auf den Retter.

      „Verdammt!“, brüllt Renan. „helft mir dieses Ungeheuer festzuhalten. Ruft die Polizei!“

      Die Umstehenden rühren sich noch immer nicht. Die einen glotzen, die anderen gehen einfach weiter, nur weg aus der Gefahrenzone. Schließlich haben sie nichts damit zu tun. Am Ende bekommt man noch einen Messerstich ab, nein nein, das ist sicher eine Stammesfehde, irgendeine Türkenmafia-Geschichte, das sollen die mal schön unter sich ausmachen. Womöglich hat noch einer von denen Corona, denen kommt man besser nicht zu nahe.

      Hakan wählt einen aus, der besonders stark aussieht. Er hat große, kräftige Beine, sehr breite Schultern und einen Kopf wie der Mann auf der Flasche mit dem Reinigungsmittel. Seine schweren, schwarzen Stiefel mit den weißen Schnürsenkeln machen den Eindruck, als wenn ihn nichts und niemand umhauen könnte. Hakan geht auf ihn zu und sagt: „Du bist groß und stark. Kannst du meiner Mama helfen?“

      Der große Mann sieht ihn lange an. Zuerst so, als sehe er durch den kleinen Jungen hindurch. Aber die Hilfsbedürftigkeit und das große