Arber Shabanaj

Die Glocken der Stille


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der Andeutungen versteht und auch „zwischen den Zeilen“ zu lesen imstande ist. Oft kommt es zu überraschenden Wendungen und unerwarteten Pointen.

      Ich hoffe, dass sowohl durch die Vielfalt der angesprochenen Themen, als auch durch die sprachliche Gestaltung das Interesse des Lesers geweckt wird.

      Arber Shabanaj

      Der Junge mit der Narbe

      Stadt W. ist die Stadt von 1001 Merkwürdigkeiten. Dort kannst du selbst die unglaublichsten Geschichten erleben. Einige Tage Aufenthalt unter der Sonne in dem Lokal von Giacome Gianone reichen völlig aus, um beim Kaffeetrinken das Leben der unterschiedlichen Protagonisten dieser mittelgroßen bergischen Stadt kennenzulernen. Bei den Geschichten handelt es sich entweder um eine wahre Erzählung oder sie ist in eine Intrige verpackt, wobei weder die Eine, noch die Andere als zutreffend zu bezeichnen ist.

      Doch in jedem Fall leben hier die Einwohner mit der Erwartung, dass etwas geschehen wird, damit sie unter den Anderen als etwas Besonderes gelten können. Vor dem Lokal ist es möglich, einige Male die gleichen Gesichter zu sehen, Menschen mit den gleichen Anzügen und Gehformen, die dir eine Begrüßung widmen oder wenigstens ein kleines Zeichen voller Höflichkeit und Affinität. Jemand, der aus einer anderen Stadt kommt, insbesondere die aus der Hauptstadt, könnte jene Geste als sehr wertvoll einschätzen. Ausreichend ist es, die Erscheinung eines einigermaßen Intellektuellen mitzubringen oder an dem Tisch von Jemandem mit Namen zu sitzen.

      Nicht alle, die woanders herkommen, könnten das Interesse mitbringen, sich in die Erlebnisse der Menschen, mit denen keinerlei Verbindung besteht, rein zu versetzen. Wenn man neu in einer Stadt ankommt, orientiert man sich ohnehin als erstes an den logistischen Dingen, die den Beitrag dazu leisten, den Weg zum Hotel und zur Post nicht zu vergessen. In jedem Fall wäre es nicht empfehlenswert, in dieser etwas kleineren Großstadt, statt die Straße, die zum Hotel „Inter City“ führt, die andere zu nehmen und durch die Papagei Straße zu gehen, die dich ins nirgendwo führt.

      Jedenfalls, da die Stadt ein kuscheliges Kultur- und Kunstleben betreibt, dort wo die Bibliothek sowohl von Schülern als auch von Bürgern genutzt wird, solltest du dich mit etwas außerhalb deines Zuständigkeitsgebietes beschäftigen, nur keine Bange, denn das wird hier irgendwie zum Beruf.

      Hier wussten sie alle, dass sich Vera, Busch Breitfelders Tochter, in den Sohn des Polizeichefs verliebt hatte. Sie verlangten auch, die Wahrheit bekannt zu geben, wie es Nuria Zeynepe Idriza, die Brotverkäuferin, geschafft hatte, erst nach fünfzehn Jahren Ehe schwanger zu werden. Also, ob ihr Ehemann, Recep-Muharrem Avdylrrahman, sie geschwängert habe - allerdings über ihn wurde längst erzählt, dass er in diesem Aspekt nicht fähig sei - oder der Brotfahrer, Ehud Isidor Stern, mit dem sie sich in dem Laden eingeschlossen hatte, unter dem Vorwand: Den Tagesplan besser koordinieren zu wollen.

      Es wird auch diskutiert, ob und wie sich die Beziehung zwischen der Schulleitung des Gymnasiums und dem Bildungschef entwickelt hätte. Das Verhältnis zwischen den Beiden war dermaßen kristallisiert, weil der Schulleiter im Fach Physik, der einzigen Tochter des Chefs eine Zwei gegeben hatte.

      Über die Verhältnisse zwischen Giuseppe und Dutz Assimilchen diskutierte keiner. Die Zwei waren seit Ultimo miteinander verbunden und keiner von den Beiden wagte den Schritt sich zu verloben. Sie waren der Überzeugung, dass danach die Ehefrauen und Kinder die höchste Priorität hätten, und demzufolge ihre Freundschaft in Vergessenheit geriet.

      Anders war der Stand der Dinge bei Flora und Mark. Für die ganze Stadt galten sie als Mann und Frau, nur sie lebten nicht zusammen. Marks Mutter hatte ihre Verwarnung ausgesprochen, dass nur erst wenn ihr Sarg abtransportiert werden würde, Frank Sprinters Tochter in ihrem Zuhause als Braut eintreffen dürfe. Sie hatte es so häufig zum Ausdruck gebracht, dass sie sich nicht einmal vorstellen konnte, seine Tochter durch ihre Tür rein zu lassen, während ihr Vater, Frank, mit seinem Sprinter von Tür zu Tür fuhr und die Toiletten und Abflüsse von den privaten Häusern reinigte. Der Mutter war die Tatsache gleichgültig, dass unter dem Klang ihres hartnäckigen Klaviers, Mark und Flora am Ende der Straße mit Küssen beschäftigt sein könnten. Dennoch, eine familiäre Beziehung, mit Frank, würde sie nie im Leben zulassen.

      Mit Sicherheit in einer großen Stadt wie Berlin, würden solche Ereignisse spurlos in Vergessenheit geraten und kaum eine derartige Neugier auslösen. In W. aber, die sarkastisch auch als „Regenloch“ tituliert wird, dort wo häufig die Sonne mit dem Ritual der Ereignisse auf- und untergeht, haben sie einen besonderen Effekt.

      Das Ganze lernte ich kennen, während ich einen Kaffee trank, den mir Busch ausgegeben hatte, ein Mitarbeiter unserer Zeitung. Nun hatte ich es geschafft, mir auch einige Gesichter einzuprägen.

      Mark hatte eine schwarze Narbe an der Wange, und es war leicht, ihn nicht mit den Anderen zu verwechseln. Jedoch Ehud Isidor Stern hatte keine Besonderheit aufzuweisen. Schon möglich, dass er etwas Derartiges im Versteck hatte, abgesehen davon, dass Nuria Zeynepe Idriza sich beim Brote zählen so schlimm verzählt hatte. Während dessen spazierten Giuseppe und Dutz bis zum Sonnenuntergang ohne jegliche Gesellschaft. Und in der Zeit, wenn die Anderen nach Hause gingen, besetzten die Beiden den Tisch in Giacome Gianones Restaurant, denselben Tisch, wo sie schon seit fünfzehn Jahren getrunken haben.

      Sicherlich gelang es mir nicht, schon am ersten Tag Vera mit dem Sohn des Polizeichefs zu sehen. So wie es aussah, warteten sie bis die Nacht sich breit machte, um sich endlich irgendwo am Rande hinter den Appartements zu treffen.

      Es war mein erstes Mal, dass ich diese Stadt besuchte. Als Journalist, wäre ich in der Lage hunderte von Geschichten zu hören, überzeugt davon, dass ich morgen oder übermorgen, woher soll ich genau wissen wann, mir eine davon zu Gemüte führen und selber nutzen würde. Der Chef meiner Redaktion hatte insbesondere uns jungen Journalisten empfohlen, jedes Ereignis „anzuziehen“ - wie er sich ausdrückte -, weil ein Journalist im Leben mit einem Magneten oder einem Geheimagenten zu vergleichen ist.

      Mit Busch, dem Mitarbeiter, wechselten wir vom Café aus in ein Restaurant, und dort hatte er eine nette Überraschung für mich uns vorbereitet. Von irgendwoher hatte er eine Forelle klargemacht und stellte sie vor uns hin.

      „Es ist eine Seeforelle.“, sagte er zu mir. „Ich habe sie heute beim Angeln gesichert. Da ich Giacome gut kenne, überließ ich es ihm, sie hier im Lokal für uns zuzubereiten. Ich weiß, dass für euch Berliner, dies eher eine seltsame Sache ist.“

      Busch schien sich äußerst gut mit dem Schnaps zu verstehen. Er trank mit Genuss und nicht wie in unserer Gegend mit einem Schluck. Dazu strahlte er Freude aus, beim Zuhören oder auch unterschiedliche Geschichten und Ereignisse zu erzählen. Jene Geschichten waren mit einer unendlichen Chronik zu identifizieren. Während den wenigen Stunden des Zusammenseins, die wir hatten, gleich wie das Skelett aus der Forelle, holte er das Skelett aus seiner eigenen Stadt raus.

      Möglicherweise wegen des weiten Weges von Berlin aus, möglicherweise wegen der freigelassenen Dunstwölkchen und der Wärme des Lokals, formten meine Augen regelrechte Weite.

      „Du bist müde.“, sagte er zu mir.

      „Nein“, sagte ich, „dass mag nur so rüberkommen.“

      Zwischenzeitlich ging die Tür des Restaurants auf und Flora und Mark traten ein. Sie setzten sich an ihren Tisch neben dem Fenster. In der Mitte des Tisches stand ein Strauß mit Rosen.

      „Frau Duden ist angetan von Blumen.“, sagte Busch zu mir, überzeugt davon, dass mir die Rosen einen Eindruck beschert haben müssten. „Mark bringt sie täglich mit.“

      Irgendwie wollten es meine Augen und landeten mit einem Blick auf die Beiden. Flora und auch Mark, voller Toleranz, widmeten mir eine Begrüßung und anschließend schauten sie einander in die Augen.

      Flora musste immerschon hübsch gewesen sein, sehr hübsch. Selbst jetzt, während sie - laut Busch - auf die Vierzig zuging, strahlte sie eine auffallende Frische aus, wegen der auch eine Dreißigjährige neidisch werden könnte. Ihre Augen verfügten über eine besondere Lebendigkeit. Mark, mit dem Körper eines Leistungssportlers ausgestattet, ging sehr sparsam