Norbert Böseler

Animalische Schattenseiten


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nicht, verabscheute ihn regelrecht. Das Piepen, das Rattern der Maschine, der widerliche Geruch. All das nahm er nach Feierabend mit nach Hause. Manchmal verfolgte die Arbeit ihn noch bis in den Schlaf, wo sie entsetzliche Alpträume hervorrief. Doch was sollte er machen, das Leben ging weiter, obwohl er in den letzten Tagen oft daran gedacht hatte, es einfach zu beenden. Sabrinas Tod hatte ihn in ein tiefes Loch fallen lassen. Ohne sie kam er sich hilflos und nutzlos vor. Die Umstände ihres Ablebens blieben ein Rätsel, anfängliche Ermittlungen auf ein Fremdverschulden wurden schnell eingestellt. Marcel stand vor dem Nichts. Auch wenn er frustriert seiner Arbeit nachging, musste er das Haus höchstwahrscheinlich veräußern. Mit seinem Einkommen konnte er die Schulden niemals tilgen. So ging er zur Arbeit, tat das, was getan werden musste und legte sich mit klagenden Gedanken ins Bett. Im Schlaf hörte er das Piepen.

      Die erste Arbeitswoche nach dem Schicksalsschlag verlief relativ normal. Stoisch, wie ein Roboter, verrichtete Marcel seine Tätigkeit. Lust - und Emotionslos. Beim Schichtwechsel tauschte er sich nur kurz mit seinem Kollegen aus und ging dann gemächlich nach Hause. Seine beiden Kollegen, mit denen er sich die 24 Stunden-Schicht teilte, hatten keine Probleme mit den erschwerten Arbeitsbedingungen. Marcel hingegen haderte mehr und mehr. Am liebsten würde er den Job hinschmeißen, besonders jetzt, seit Sabrina nicht mehr an seiner Seite war. Umso erleichterter war er, als es nach der anstrengenden Arbeitswoche in ein langes Wochenende ging. Erst am Dienstagmorgen musste er wieder zur Frühschicht.

      Damit er nicht zu viel nachdenken musste, stürzte Marcel sich in die Hausarbeit. Er wusch Wäsche und saugte den Boden. Unter dem Ehebett fand er noch ein paar Federn, was bei ihm sofort eine Gänsehaut verursachte. Wieder keimten Gedanken auf, die sich nicht in seinen Kopf einnisten sollten. Um sich abzulenken, legte er sich aufs Sofa und sah fern. Er zappte durch die Programme und entschied sich für eine Dokumentation über das Amazonasgebiet. Auch die berauschenden Naturaufnahmen konnten seine Selbstzweifel nicht vertreiben. Erst als seine Augenlider vor Müdigkeit schwer wurden und er in einen sanften Schlaf fiel, hatte er Ruhe.

      Etwas tippelte über seinen Brustkorb. Ein flauschiges Kitzeln unter der Nase. Dann ein brennender Schmerz, der Marcel aufschrecken ließ. Er schmeckte Blut. Etwas stach in seine Lippe. Schlaftrunken öffnete Marcel die Augen. Noch von Müdigkeit benebelt, erkannte er dicht vor seinem Gesicht ein gelbliches Gebilde. Zunächst dachte er an einen Tennisball, doch dieses gelbe Etwas hatte zwei kleine Beine. Es drehte sich langsam um und Marcel blickte in zwei kreisrunde schwarze Äuglein. Vor ihm stand ein kleines Küken. Das eigentlich niedliche Tier strahlte eine bedrohliche Aura aus, die stecknadelkopfgroßen Augen sahen Marcel hasserfüllt an. Der blutverschmierte Schnabel hob sich und hackte erneut in Marcels Unterlippe. Marcel holte aus und schlug mit der flachen Hand nach dem Tier. Das Küken flog mit voller Wucht gegen den Fernsehschrank und landete zappelnd auf dem Boden. Marcel setzte sich auf und sah hinunter. Das Hühnerküken zuckte noch einmal und hauchte dann sein Leben aus. Marcel bückte sich und nahm es in die Hand. Der kleine Kopf baumelte am gebrochenen Genick zwischen seinen Fingern. Einige Blutspritzer hatten auf dem gelblichen Flaum rote Flecken hinterlassen. Marcel ging mit dem toten Federvieh nach draußen und warf es in die Mülltonne. Wieder im Haus schwelgten seine Gedanken zwischen Sabrina, seiner Arbeit und dem Küken. Er dachte an die Federn im Mund seiner Frau.

      Den Abend verbrachte Marcel in seiner Stammkneipe, wo er seine Sorgen mit Alkohol hinunterspülte. Verkatert schleppte er sich durch den Sonntag. Am Montag ging er früh zu Bett, da er am nächsten Tag zeitig zur Frühschicht musste. Mitten in der Nacht wurde er von seinem Handy geweckt. Der Kollege von der Nachtschicht rief ihn an. Er klang aufgebracht und verstört. Die Maschine würde Probleme machen und überhaupt herrsche in der Halle ein fürchterliches Chaos. Von der Firmenleitung könne er niemanden erreichen und so bat er Marcel um Hilfe. Der versprach, sofort zu kommen. Marcel zog sich eilig an, holte sein Fahrrad aus dem Schuppen und fuhr zur Brüterei.

      Er führte seine Karte in den Türöffner und gab seinen Pin ein. Mit einem Summen wurde die Tür entriegelt. Marcel schob sie auf und fuhr mit dem Rad aufs Firmengelände. Das Pförtnerhäuschen war um diese Zeit nicht besetzt. Im Grunde genommen stand der Betrieb während der Nacht still. Nur die Brutanlagen wurden von zwei Mitarbeitern überwacht und auch in seiner Abteilung musste immer jemand vor Ort sein. Die Halle, in der sein Kollege scheinbar gravierende Probleme hatte, befand sich abseits der anderen ganz hinten auf dem Betriebsgelände. Marcel näherte sich dem fensterlosen Gebäude, das mit grauen Trapezblechen verkleidet war. Aus den vergitterten Boxen, hinter denen sich normalerweise die Ventilatoren der Lüftung geräuschvoll drehten, drang kein Laut. Anscheinend war die Lüftungsanlage ausgefallen. Marcel kam die nächtliche Stille unheimlich vor. Auch die Leuchtstoffröhre über der Eingangstür strahlte kein Licht ab. Marcel lehnte sein Fahrrad an die Blechwand und führte seine Karte in den Schlitz der Türsicherung. Wieder gab er seinen Pin ein, woraufhin die schalldichte Tür sich öffnen ließ. Das Erste, was Marcel auffiel, als er den Vorraum betrat, war der Gestank nach Verbranntem. Er konnte den Geruch nicht genau definieren. Es roch nach verbranntem Fleisch, aber auch nach Gummi und Kunststoff. Rauch konnte er nicht erkennen. Was ebenso unangenehm war, war die Geräuschkulisse, die sich in seine Ohren bohrte wie ein spitzer Pfeil. Eine markerschütternde Mischung aus Piepen, Pfeifen, Zirpen und Kreischen. Als er die Tür zum Technikraum öffnete, nahm der Geräuschpegel noch um etliche Dezibel zu. Was ebenfalls zunahm, war der beißende Gestank, der Tränen in seine Augen trieb. Marcel hielt sich die Nase zu und musste husten, als er die von Gasen zersetzte Luft einatmete. Ihm wurde schwindelig, der Boden unter seinen Füßen schien im wahrsten Sinne des Wortes lebendig geworden zu sein. Auf dem Boden wimmelte es von kleinen Küken. Er konnte es nicht vermeiden auf die winzigen Hühnchen zu treten. Marcel stützte sich an der Wand ab und blickte auf die Schaltkästen, die regelrecht aufgepickt worden waren. Die Türen der Schränke standen offen und legten Kabel und Sicherungen frei. Die Küken hatten mit ihren Schnäbeln die Kabel beschädigt und Sicherungen demoliert. In den Kästen lagen verschmorte, angekokelte Tiere, deren schwarzgewordener Flaum noch glühte. Überall sprühten knisternde Funken unkontrolliert hin und her. Sterbende Küken lagen zitternd auf dem Boden und wurden einfach von anderen Tieren überrannt, um das Werk ihrer Artgenossen zu vollenden. Die Notbeleuchtung flackerte, dann gab es einen lauten Knall aus dem hinteren Sicherungskasten und das Licht im Versorgungsraum erlosch. Marcel wandte sich der letzten Tür zu, die in die Halle führte. Als er sie öffnete, stockte ihm der Atem.

      Der Hallenboden bestand aus einem Meer aus Küken. Eine bräunlich gelbe Welle schwappte durch die Halle, begleitet von einem ohrenbetäubenden Lärm, der durch das Gebäude schallte. Das Kreischen der Eintagsküken bohrte sich unaufhaltsam in Marcels Ohren. Er hielt sich die Hände an den Kopf, versuchte, das Heulen des tierischen Sturmes zu ersticken. Aus den Augenwinkeln sah er, dass der Gang zur Sortierung offenstand und noch mehr Tiere in die Halle strömten. Vermutlich war auch die Schleuse zu den Brutanlagen geöffnet. Das Förderband, das von der Sortierung in die Halle führte, ragte aus dem Gang wie eine eitrige Zunge, die mit flauschigen Tieren bedeckt war. Wenn Küken vom Band fielen, sah es aus, als würde Schleim zu Boden tropfen. Marcels Augen folgten dem Band bis zum Ende, wo sich der Schredder befand. Was er dort sah, versetzte ihn in Angst und Schrecken. Der Kollege, der ihn um Hilfe gebeten hatte, lag leblos auf dem Förderband. Sein ausgestreckter Arm steckte bis zur Schulter im Schredder. Die scharfen Zinken der Walze hatten sich in sein Fleisch gefressen und die Knochen zermalmt. Die Maschine war mit seinem Blut besudelt. Marcel konnte das Entsetzen und den Schmerz in seinen Augen erkennen. Das war auch das Einzige, was er von seinem Arbeitskollegen sehen konnte, denn sein ganzer Körper war von Küken verhüllt, die ihn wie ein fleischgewordenes Laken bedeckten. Die amoklaufenden Jungtiere hackten wild auf den Mann ein, rissen ihm förmlich die Kleider vom Leib, um ihre Schnäbel in sein Fleisch versenken zu können. Die Meute kämpfte um die besten Plätze, Flaumfedern flogen wie gelbe Schneeflocken durch die Luft. Marcel erwachte aus seiner Schockstarre. Er musste seinem Kollegen helfen, obwohl er vermutete, dass jede Hilfe zu spät kam.

      Er trat einen Schritt in die Halle hinein und wurde sofort von den Küken attackiert, die sich in sein Hosenbein verbissen. Marcel ignorierte sie und watete weiter in das gelbe Meer. Einige Tiere wurden von seinen Schuhsohlen zerquetscht. Je weiter er in die Halle hineinschritt, umso mehr nahm er einen anderen Geruch wahr. Es roch nach Gas. Marcel blickte zur Gaskammer, die nur benutzt wurde, wenn besonders viele männliche Küken getötet werden mussten. Die Kammer war