Alexandr A. Bogdanov

Mars - Roter Stern


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„Ungefähr eine Stunde. Wir landen auf einem vereisten See.“

       Wir befanden uns in einer Höhe von mehreren hundert Metern, die Gondel flog waagerecht, ohne zu sinken oder zu steigen. Meine Augen gewöhnten sich an die Finsternis, und ich konnte alles deutlich erkennen. Unter uns breitete sich eine Gegend mit Seen und Granitfelsen aus. Die Felsen hoben sich an einigen Stellen schwarz vom Schnee ab. Zwischen ihnen klebten kleine Dörfer.

       Linker Hand blieb das Schneefeld eines vereisten Meerbusens hinter uns zurück, rechter Hand lagen die weißen Ebenen eines riesigen Sees. In dieser leblosen Winterlandschaft sollte meine Verbindung zur alten Erde zerreißen. Und auf einmal spürte ich — kein Zweifel, nein, es war die echte Gewissheit —, dass das ein Abschied für immer sein würde.

       Die Gondel sank langsam zwischen Felsen nieder und schwebte in die kleine Bucht eines Gebirgssees. Ein dunkles Gebilde erhob sich aus dem Schnee. Weder Fenster noch Türen waren zu sehen. Eine Metallwand wurde langsam beiseitegeschoben und gab eine dunkle Öffnung frei, in die unsere Gondel hineinflog. Danach schloss sich die Wand wieder. Der Raum, in dem wir uns befanden, erstrahlte in elektrischem Licht. Es war ein großer, länglicher Saal ohne Möbel, auf dem Boden lagen lediglich Ballastsäcke.

       Menni befestigte die Gondel an speziell dafür bestimmten Pfosten und öffnete eine Seitentür. Wir betraten einen schwach beleuchteten Gang mit einer Reihe von Türen. Ich wurde in ein Zimmer geführt.

       „Das ist Ihre Kajüte“, sagte Menni. „Machen Sie es sich bequem, ich muss in den Maschinenraum. Wir sehen uns morgen früh.“

       Ich war froh, allein zu sein. Trotz der Erregung infolge der merkwürdigen Erlebnisse des Abends war ich ermattet. Ich rührte das Abendessen auf dem Tisch nicht an, sondern löschte gleich die Lampe und legte mich ins Bett. Verworrene Gedanken schwirrten durch meinen Kopf. Ich mühte mich krampfhaft einzuschlafen, doch es gelang mir lange nicht. Schließlich wurde mein Bewusstsein trübe, flüchtige Bilder drängten sich mir vor die Augen, die Umgebung entschwand, und schwere Träume bemächtigten sich meines Hirns.

       Die Kette der Träume endete mit einem Alptraum. Ich stand an einem schwarzen Abgrund, auf dessen Boden Sterne glänzten, und Menni wollte mich hinunterstoßen. Er sagte, ich brauche die Schwerkraft nicht zu fürchten, nach einigen hunderttausend Jahren Fall würden wir zum nächsten Stern gelangen. Ich stemmte mich gegen ihn, stöhnte in qualvollem Ringen auf und erwachte.

       Zartes blaues Licht füllte mein Zimmer. Menni saß auf dem Bett und neigte sich zu mir. Menni? Ja, er, aber gespenstisch-seltsam und irgendwie anders. Er schien kleiner geworden zu sein, seine Augen traten nicht so stark hervor, er lächelte gütig und hatte nicht den kalten und unerschütterlichen Gesichtsausdruck wie eben im Traum.

       „Wie gut Sie aussehen“, sagte ich benommen.

       Er legte seine Hand auf meine Stirn. Es war eine kleine, zarte Hand. Ich schloss wieder die Augen, und mit dem absurden Gedanken, dass ich diese Hand küssen müsste, sank ich in einen ruhigen, tiefen Schlaf.

      4. Die Erklärung

      Als ich erwachte und das Licht einschaltete, zeigte die Uhr zehn. Nach meiner Morgentoilette drückte ich den Klingelknopf, und kurz darauf erschien Menni.

       „Fliegen wir bald?“, fragte ich.

       „In einer Stunde“, antwortete er.

       „Waren Sie heute Nacht bei mir, oder habe ich das nur geträumt?“

       „Nein, das war kein Traum, aber nicht ich war bei Ihnen, sondern unser junger Doktor Netti. Sie haben unruhig geschlafen, er musste Sie mit Hypnose und blauem Licht einschläfern.“

       „Ist Doktor Netti Ihr Bruder?“

       „Nein“, entgegnete Menni lächelnd.

       „Sie haben mir bisher nicht gesagt, aus welchem Lande Sie stammen. Gehören Ihre Kameraden zum selben Typ wie Sie?“

       „Ja.“

       „Sie haben mich also belogen“, erwiderte ich scharf. „Das ist gar keine wissenschaftliche Gesellschaft. Was ist es dann?“

       „Wir sind Bewohner eines anderen Planeten“, erwiderte Menni ruhig, „Vertreter einer anderen Menschheit. Wir sind Marsmenschen.“

       „Warum haben Sie mich belogen?“

       „Hätten Sie mich angehört, wenn ich Ihnen gleich die ganze Wahrheit gesagt hätte? Ich hatte zu wenig Zeit, um Sie zu überzeugen. Also musste ich die Wahrheit um der Wahrscheinlichkeit willen verbiegen. Ohne diese Übergangsstufe wäre Ihr Geist zu sehr erschüttert worden. Im Wesentlichen habe ich Ihnen die Wahrheit gesagt — was die bevorstehende Reise betrifft.“

       „Das heißt, ich bin trotzdem Ihr Gefangener?“

       „Nein, Sie sind auch jetzt frei. Bis zum Abflug in einer Stunde können Sie sich noch anders entscheiden. Wenn Sie unser Angebot ausschlagen, bringen wir Sie zurück und verschieben unsere Reise, weil es keinen Sinn hätte, ohne einen Erdenmenschen heimzufliegen.“

       „Wozu brauchen Sie mich?“

       „Sie sollen als lebendes Verbindungsglied zwischen unserer Gesellschaft und der irdischen Menschheit dienen, sollen unsere Lebensweise kennen lernen und die Marsmenschen näher über das Leben auf der Erde informieren, Sie sollen der Vertreter Ihres Planeten auf dem Mars sein — solange Sie das wünschen.“

       „Ist das schon die ganze Wahrheit?“

       „Ja, die ganze Wahrheit. Fühlen Sie sich imstande, diese Rolle zu übernehmen?“

       „Ich werde es versuchen.“

       „Und ist das Ihre endgültige Entscheidung?“, fragte Menni.

       „Ja, wenn Ihre letzte Erklärung nicht wieder eine ... Übergangsstufe darstellt.“

       „Also fliegen wir“, sagte Menni, ohne meine ironische Bemerkung zu beachten. „Ich gebe dem Maschinisten die letzten Anweisungen, dann kehre ich zu Ihnen zurück, und wir werden gemeinsam den Abflug unseres Sternschiffs beobachten.“

       Ich gab mich meinen Gedanken hin. Unser Gespräch war eigentlich nicht beendet. Eine ernste Frage war geblieben, aber ich wagte nicht, sie Menni zu stellen. Hatte er bewusst Anna Nikolajewna in ihrem Entschluss bestärkt? Es schien so gewesen zu sein. Wahrscheinlich hatte er in ihr ein Hindernis für sein Ziel gesehen. Vielleicht hatte er Recht. Jedenfalls hatte er den Bruch nur beschleunigt, ihn aber nicht herbeigeführt. Natürlich war das eine freche Einmischung in meine Privatangelegenheiten. Aber nun war ich Menni ausgeliefert und musste meine Feindseligkeit ihm gegenüber unterdrücken. Es war also sinnlos, an die Vergangenheit zu rühren, am besten, ich dachte nicht daran.

       Die neue Wendung der Dinge hatte mich nicht allzu sehr schockiert. Ich fühlte mich vom Schlaf gestärkt, und nach dem, was ich am Vortag erlebt hatte, wäre es ziemlich schwierig gewesen, mich mit etwas zu verblüffen. Ich musste nur überlegen, wie ich weiter vorgehen würde.

       Zuerst musste ich mich möglichst schnell und vollständig in meiner neuen Lage zurechtfinden. Am besten war es, beim Nächstliegenden zu beginnen und mich Schritt für Schritt zu entfernteren Dingen vorzutasten. Das Nächstliegende war das Sternschiff, seine Besatzung und die bevorstehende Reise. Der Mars war noch weit, mindestens zwei Monate entfernt, wie ich aus Mennis gestrigen Worten schloss.

       Die äußere Form des Sternschiffs hatte ich schon am Abend betrachten können. Es war eine unten abgeflachte Kugel, in seiner Art ein Ei des Kolumbus — diese Form bietet das größte Fassungsvermögen bei kleinster Oberfläche, das heißt bei geringstem Materialverbrauch und Wärmeverlust. Als Material überwogen offenbar Aluminium und Glas. Die Inneneinrichtung musste Menni mir zeigen und erklären, er musste mich auch mit all den anderen „Wundertieren“ bekannt machen, wie ich meine Reisegefährten im Stillen nannte.

       Menni kam zurück und führte mich zu seinen Kameraden. Alle hatten sich in einem Raum versammelt, dessen eine Wandhälfte ein riesiges Kristallfenster einnahm. Nach dem gespenstischen Licht der elektrischen Lampen empfand ich das Sonnenlicht als sehr angenehm. An Bord waren zwanzig Marsmenschen, und alle hatten das gleiche Gesicht, wie mir damals schien. Der fehlende Bartwuchs und die