wie sie — anfangs wenigstens — die Sache auffassen würde. Was, einen Vormund? Einen Beschützer? Den brauchte sie nicht. — Starke sollte also seinen Auftraggeber verleugnen. Später machte sich ja das Alles von selbst.
Geduldig wie immer hatte ihn Starke ausreden lassen.
»Das kann ich nicht,« entgegnete er aber dann. »Wenn sie mich fragt: hat Sie Sir Munro als meinen Schatten angestellt? so werde ich mit einem Ja antworten. Denn ich lüge nicht. Allerdings täusche ich meinen Feind, und dem Räuber zeige ich einen falschen Weg, um meinen Freund zu retten. So weit treibe ich den kategorischen Imperativ nicht. Aber sonst lüge ich nicht. Warum ich wandre, warum ich auf der nackten Erde schlafe? Nein, fragen Sie nicht den Zigeuner, ich selbst kann Ihnen eine bessere Antwort geben. Weil ich frei sein will, damit ich nicht zu lügen brauche. Das ist die Antwort. Es mag Menschen geben, welche stets die Wahrheit sagen — doch ich bin noch keinem begegnet, und ich glaube, heutzutage darf man nicht mehr das Fass des Diogenes zur Wohnung haben, um schadlos die Wahrheit sprechen zu können. Ich darf es — denn ich habe nichts mehr zu verlieren, nachdem ich die Heimath verlor. Sir Munro, vernehmen Sie von mir ein grosses Wort, welches sonst vermessen klingt, aber nicht von mir, denn ich spreche es aus mit kühler Ueberlegung: Sie sehen vor sich einen zufriedenen Mann, dessen Glück durch nichts, durch gar nichts zu erschüttern ist. Ich habe der Welt entsagt, und deshalb gehört mir die ganze Welt. Ich lüge nicht, ich brauche nicht zu lügen, denn ich habe mir das Recht, die Wahrheit sagen zu dürfen, durch schweren Kampf errungen. — Ich lüge nicht.«
Diesmal war es wirklich ehrerbietiges Staunen, mit welchem Munro zu dem hünenhaften Sprecher emporblickte. Ich lüge nicht! Aus meinem Munde kommt kein unwahres Wort! Wo ist der Mensch, der so sprechen darf. Er wäre gesellschaftlich eine Unmöglichkeit. Er müsste als Einsiedler in die Wüste gehen oder ungefähr so leben, wie dieser Mann lebte.
Schon längst war Munro einem geheimnissvollen Zauber unterlegen. Er fühlte förmlich den kühlen Hauch von Ruhe, Kraft und Wahrheit, der von diesem Manne ausging. Solch' einen Mann zu seinem Freunde zu haben! Und dieser Hauch wirkte nervenstärkend.
Ja, richtig — seltsamerweise dachte Munro in diesem Augenblick daran — der kleine Zimmerkellner, der war auch von diesem Hauche getroffen, angesteckt worden, dass er so unverfroren wiederholen konnte: Eure Herrlichkeit sollen sich verkehrt aufhängen lassen — das hat er gesagt.
»Kein Wort weiter, Mr. Starke, ich bin mit Allem einverstanden.«
»Dann wollen wir die Reise, die Stationen besprechen, wie wir uns immer verständigen können, und bedenken Sie, dass, wenn ich morgen Abend schon nach Liverpool reisen soll, wir kaum noch 30 Stunden Zeit haben, und ich muss auch noch einige Vorbereitungen treffen, mein Rad nachsehen.«
»Sie werden wieder ein Globe-Rad fahren?«
»Ich werde mich hüten! Die Werkzeuge sammelten sich nach and nach zu einem halben Centner an, den ich mitschleppen musste, jeden Tag hatte ich fünf Stunden an der Jammermaschine zu doctorn. Doch was geht's mich an, wenn sie mit mir Reclame machen, ich halte mich nicht verpflichtet, dagegen zu eifern, und Thatsache ist es, dass ich nur die eine Maschine benutzt habe. Nein, ich habe in London noch ein Rad stehen, welches ich mir vor zwei Jahren selbst gebaut habe, das werde ich für's Erste gebrauchen.«
Er sprach durchaus nicht immer so ernst, wie er aussah; manchmal recht humoristisch, nur dass sich sein Aeusseres nie dabei veränderte, dass er nie lachte.
Munro öffnete das Fenster. Unten hielt ja noch seine Equipage.
»Dick,« rief er hinab, »fahr nach Hause und packe die beiden Seekoffer reisefertig.«
Dann wurden auch hier Landkarten ausgebreitet. 8500 Meilen sollten in kurze Strecken von Station zu Station eingetheilt werden. Es wurde Nacht, sie assen und arbeiteten bei Lampenlicht weiter. Sie waren erst im Lande der Mormonen am grossen Salzsee, und Starke wollte wenigstens noch bis nach San Francisco kommen, Munro erklärte, nicht mehr zu können; die Augen fielen ihm zu. Er legte sich gleich hier in's Bett, in diesem Zimmer, und als er am anderen Morgen ziemlich spät erwachte, sass Starke noch immer am Tisch neben dem offenen Fenster, im Coursbuche blätternd, schreibend und rauchend, und schon nach seiner geleisteten Arbeit konnte Munro beurtheilen, dass er nicht geschlafen hatte. Er schien keines Schlafes zu bedürfen.
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4. Capitel.
Der achte September.
»Haben Sie etwas Verzollbares bei sich? Spitzen, Pretiosen, Spirituosen?«
Unter dem scharfen Blicke des amerikanischen Zollbeamten erröthete Ellen bis in die Schläfen, sie wurde immer verlegener, konnte nur noch flüstern — gerade jetzt, da sie sich vorgenommen hatte, offen aufzutreten, und sie hatte ja auch gar nichts bei sich. Und nun erröthete sie.
Erstens machte sie der Gedanke verlegen, dass jetzt die Augen aller Passagiere mit spöttischem Staunen auf sie gerichtet seien, denn Angesichts der Freiheitsstatue im New-Yorker Hafen präsentirte sie sich zum ersten Male in ihrem Weltreisecostüm, und zu diesem gehörten Hosen; denn sie benutzte ein Herrenrad, und Hosen hatte Ellen noch nie gegen den eleganten Radlerrock vertauscht gehabt.
Der Spiegel in der Cabine, in welcher jetzt ihr Reisekleid dem zur Verfügung stand, der es zuerst fand, hatte ihr zwar gesagt, dass sie recht fesch in dem abenteuerlichen Herrencostüm aussah, in dem dunkelbraunen Lodenanzug, mit den hohen, gelben Schnürstiefeln, wie unter dem schottischen Mützchen die blonden Locken hervorquollen, ein frisches, edles Gesicht einrahmend; auch der Revolver im Futteral am Gürtel gab ihr etwas von ritterlicher Verwegenheit, der Tornister auf dem Rücken entstellte das ganze Bild auch nicht — ja, sie sah recht gut aus, aber sie hätte schon kaum gewagt, aus der Cabine herauszutreten, und als sie dann ihr Rad über Deck fuhr, und als sie einen Mann vor Staunen förmlich zurückprallen sah, da wünschte sie, schon in der einsamen Mongolensteppe zu sein. Ach, diese Hosen! Es war ein grässlicher Gedanke.
Zweitens kam nun der Zollbeamte mit seinem durchdringenden Blick.
Sie hatte schon genug davon gehört, sie fühlte sich bereits von fremden Händen ausgeschält. Jacke, Weste, Hose, Stiefel, Strümpfe aus, Alles aus bis auf's Hemd, ob sie nicht eine Leibbinde von Brüsseler Spitzen trüge, und wenn es auch Frauenhände waren, in einer abgeschlossenen Kammer, es war doch furchtbar — und es musste so kommen, denn sie erröthete ja immer mehr, obgleich sie doch gar nichts Verzollbares hatte.
Aber Ellen irrte sich. Einmal hatten die Passagiere soviel mit ihren Koffern und mit sich selbst zu thun, dass sie das Mädchen im Männercostüm gar nicht beachteten, und dann wissen die Zollbeamten, dass gerade jene Damen und Jünglinge, welche gleich so erröthen und zittern, die allerunschuldigsten sind, die geben sich nicht mit Pascherei ab. Aber die, welche ein keckes Nein sagen und dreist den Blick erwidern, die haben sie schärfer im Auge, und überhaupt, diese Zollbeamten sehen, riechen und fühlen mehr als andere irdische Menschen, manchmal scheinen sie wirklich hellsehend zu sein.
»Nein, ich habe wirklich nichts,« stammelte Ellen.
»Ringe? Es ist nur ein Diamantring frei.«
Gehorsam streckte Ellen die Hände aus. Die linke trug nur einen oxydirten Kupferring, der nicht einmal einen Australneger gereizt hätte, und für Ellen vertrat er die Visitenkarte. »Ellen Howard, London« war darauf eingravirt, falls man einmal eine Leiche, nach Jahren ein Skelett finden sollte. »Dieses neue Rad muss verzollt werden.«
»Ich will — ich möchte — um die Erde fahren,« stotterte Ellen mit bittendem Blick und knöpfte das Jäckchen, auf, um den englischen Pass hervorzuholen.
»Schon gut,« wehrte der Beamte ab, der nicht einmal das leiseste Staunen bei dieser Erklärung zeigte. »Schläuche auf — Schläuche auf, Schläuche auf!« drängte er, als seiner Aufforderung nicht gleich nachgekommen wurde.
Ellen stützte sich auf das Rad, es zischte; sie sank etwas zusammen. Eine fremde Hand war es gewesen, welche die Ventile geöffnet hatte, eine braune, muskulöse Hand, die sich aus einem gelben Lederärmel hervorreckte. Nur wie im Nebel sah Ellen neben sich einen