Eberhard Weidner

SCHRECKENSNÄCHTE


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aus der Anstalt hatte er zu diesem Zeitpunkt längst abgeschüttelt gehabt.

      Die Erinnerungen wurden mit jedem weiteren Schlag seines Herzens deutlicher und konkreter.

      Und so wurde ihm nun wieder vollends bewusst, dass er nach all den Jahren mit Elke gesprochen und ihr gesagt hatte, wie dringend sie miteinander reden mussten. Sie hatte ihn natürlich gefragt, worum es ging. Aber das konnte er ihr nicht am Telefon sagen. Nein, bloß nicht! Vielleicht hörten seine Verfolger mit. Doch trotz seiner Geheimniskrämerei, die ihr verdächtig erscheinen musste, hatte Elke seine Erwartungen nicht enttäuscht. Ohne zu zögern, hatte sie seine Bitte um ein Treffen erhört und ihn zu sich eingeladen. Allerdings hatte er auch nichts anderes von ihr erwartet. Gute, treue Elke!

      Während ihr Bild in seiner Erinnerung allmählich verblasste und wieder in die Untiefen seines Verstandes eintauchte, klärte sich sein Blick wieder. Zum ersten Mal nahm er bewusst die dreckige Pfütze wahr, in der er lag. Unmittelbar vor seinen Augen schwamm eine alte zerfledderte Zigarettenkippe.

      Das Wasser kräuselte sich, als ein Tropfen mit leisem Platschen in der Pfütze landete und rote Schlieren ins schmutzig graue Wasser zauberte.

      Blut?

      Es war tatsächlich Blut, und zwar sein eigenes, das aus einer Platzwunde an seiner Stirn stammen musste. Der Gedanke wirkte wie ein Funke, der die kurze Lunte einer Sprenglandung entzündete, denn von einem Augenblick zum anderen kehrte explosionsartig der Schmerz hinter seiner Stirn zurück und ließ ihn leise aufstöhnen.

      Unmittelbar darauf nahm er erstmals die eisige Kälte des Wassers wahr, in dem er lag. Er fröstelte und erschauderte, denn die Kälte war bereits durch seine zu dünne Kleidung gedrungen, hatte seine Haut taub werden lassen und kroch nun in seine Gliedmaßen.

      Hinter ihm ertönte ein verstohlenes Scharren, das sich erschreckend nah anhörte.

      (Gleich haben sie dich!)

      Sekundenlang war er noch immer wie gelähmt, während zumindest sein Verstand wieder die Arbeit aufnahm. Er vermeinte fast, das Knirschen hören zu können, mit dem sich die eingerosteten Zahnräder in seinem Oberstübchen allmählich wieder in Bewegung setzten.

      Ein Scharren! Vielleicht sogar das Scharren von nackten, schmutzigen Füßen auf dem Asphalt?, fragte er sich.

      (SIE KOMMEN!)

      3

      Die Heftigkeit dieses Gedankens ließ ihn aufschrecken und die Lähmung seines Körpers überwinden. Mit quälender Langsamkeit rappelte er sich auf, kam zunächst mühsam wie ein alter Mann auf die Knie, ehe er schließlich wieder schwankend auf seinen zitternden Beinen stand, woran er schon fast nicht mehr geglaubt hatte. Er hielt den Kopf schief und horchte angestrengt, doch das Scharren wiederholte sich nicht. Auch sonst war nichts zu hören.

      Aber waren da zuvor nicht auch noch andere Geräusche?, überlegte er.

      (Ja, du Idiot! Das Klirren von Glas und ein weiteres Scharren.)

      Er fragte sich, wie lange er überhaupt dort am Boden gelegen war? Nur wenige Sekunden oder gar mehrere Minuten? Er konnte es nicht beurteilen, da der Sturz und die Benommenheit ihm jegliches Gefühl für die verstrichene Zeit geraubt hatten. Doch die wichtigere Frage lautete ohnehin, wie nah ihm seine Verfolger in der Zwischenzeit gekommen waren. Auch das konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber er ahnte, dass sie seine Schwäche ausgenutzt hatten und näher gekommen waren. Für seinen Geschmack viel näher, als ihm lieb sein konnte.

      (Lauf, mein Freund!)

      Wahrscheinlich hatten sie bereits geglaubt, er wäre am Ende. Aber sie wussten eben nicht, wozu ein verzweifelter Mensch in seiner Lage fähig war. Nein, davon hatten sie vermutlich keine Ahnung. Woher auch, schließlich waren sie selbst keine Menschen mehr.

      (Lauf!)

      Endlich reagierte er, gehorchte der sonst so verhassten inneren Stimme und wirbelte herum. Jedenfalls kam es ihm selbst wie ein schnelles Herumwirbeln vor, da ihm sogar kurzzeitig schwindelig wurde, auch wenn er sich in Wahrheit vermutlich nur langsam und schwerfällig bewegte. Dann lief er weiter, ein wenig schneller als vor dem Sturz, weil ihn die Panik antrieb und dazu veranlasste, verborgene Kraftreserven anzuzapfen.

      Verdammt, wie lange hatte er nur auf dem Boden gelegen? Und wie hatte er nur so verrückt sein können, zu glauben, ihm könnte nichts geschehen, wenn er einfach liegen blieb und vergaß, was geschehen war? Genauso gut könnte er sich selbst eine Kugel durch den Schädel jagen. Das hätte denselben Effekt, wäre aber schneller vorbei und weniger schmerzhaft, als wenn sie ihn erwischten.

      (Völlig verrückt!)

      Ausnahmsweise musste er der Stimme in seinem Kopf recht geben. Diese Aktion war in der Tat vollkommen verrückt gewesen. So hatten sie ihn auch manche Leute in der Anstalt genannt: verrückt, irre, durchgeknallt! Und deshalb hatten sie ihn ja auch weggesperrt.

      Dabei war er gar nicht verrückt! Das hatte er doch gerade bewiesen, oder etwa nicht? Schließlich war er nicht liegen geblieben und hatte tatsächlich alles vergessen, wie es ein komplett Durchgeknallter vermutlich getan hätte. Ganz im Gegenteil, er hatte sich wieder aufgerappelt und war weitergerannt. War das nicht Beweis genug, dass er geistig völlig gesund war?

      Außerdem hätten ihn ansonsten vermutlich längst seine Verfolger erwischt, und er wäre bereits tot.

      Er rannte keuchend weiter und achtete jetzt besser auf etwaige Hindernisse, die ihn zu Fall bringen konnten. Denn wenn er noch einmal stolperte, bedeutete das gewiss sein Todesurteil, weil sie schon viel zu dicht hinter ihm waren.

      Er hob den Blick für einen kurzen Moment vom Pflaster des Gehsteigs vor ihm und sah nach der Nummer des Hauses, an dem er gerade vorbeikam. Erleichtert atmete er auf, als er feststellte, dass es jetzt nur noch wenige Meter waren, bis er am Ziel und in Sicherheit wäre. Er biss die Zähne zusammen und schaffte auch die letzten Schritte, ohne noch einmal zu straucheln. Als er endlich die Tür des Hauses erreichte, das sein Ziel war, lehnte er sich schwer atmend dagegen. Er konnte es kaum glauben, aber er hatte es tatsächlich geschafft. Mit der rechten Hand suchte er blind nach der Klinke, fand sie auch gleich und drückte sie nach unten. Die Tür gab dem Druck seines Körpers allerdings nicht nach, sondern blieb verschlossen.

      Vor Enttäuschung hätte er beinahe laut geschrien. Sollte er so kurz vor dem Ziel doch noch scheitern, und das ausgerechnet wegen einer verschlossenen Tür? Das konnte doch nicht wahr sein. Er sah sich rasch um, doch in der näheren Umgebung war noch immer alles ruhig.

      Er versuchte es noch einmal, drückte die Klinke bis zum Anschlag nach unten und warf sich mit seinem ganzen Körper gegen die massive Tür, sodass sie laut dröhnend in ihren Angeln erbebte. Doch mehr geschah nicht. Es war hoffnungslos. Auf diese Weise ließ sich die Haustür nicht öffnen.

      Er ließ den Türgriff los, den er so fest umklammert hatte, dass seine Hand ein wenig wehtat, ballte die Fäuste und atmete ein paar Mal tief durch, um die anschwellende Panik in seinem Inneren zurückzudrängen, die ihn zu übermannen drohte und zu kopflosen Aktionen veranlassen wollte. Doch er wusste, dass er einen kühlen Kopf bewahren musste, um dieses Problem in den Griff zu kriegen und richtig zu reagieren.

      Nachdem die Panik sich wieder gelegt hatte, dachte er darüber nach, was er jetzt tun sollte. Ihm fiel wieder ein, wie spät es war und dass die meisten Leute in ihren Betten lagen und schliefen. Deshalb war es auch ganz normal, dass die Haustür abgeschlossen war, schließlich war es mitten in der Nacht, und da wollten die Bewohner natürlich nicht, dass Fremde ungehindert ins Haus marschieren konnten. Die verschlossene Tür war also noch lange kein Grund, in Panik zu verfallen.

      Nach einem weiteren prüfenden Blick in die Runde, wo es noch immer geradezu verdächtig still war, ging er vorsichtig ein paar Schritte rückwärts, bis er mitten auf der Straße stand und an der Fassade nach oben blicken konnte. Wenigstens musste er sich um diese Uhrzeit keine Gedanken darüber machen, dass ihn ein Auto überfahren könnte. Als er nach oben sah, bemerkte er zum ersten Mal, dass im ersten Stock Licht brannte. Es war, soweit er sehen konnte,