Ellen Key

Rahel


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Manne sprach, machte hingegen auf Frau Silfverstolpe den Eindruck vollendeter Echtheit. »Das Ehepaar Varnhagen«, schreibt sie, »scheint mir das allgemeine Weltgetriebe aus einer kleinen geschlossenen Proszeniumsloge zu betrachten und mit feinen witzigen Bemerkungen zu glossieren.« Immer häufiger bemerkt sie, wie gut und mit welchem Maß Rahel spricht. Tieferen Einblick in Rahels Leben erhält Frau Silfverstolpe nicht, während Bettina sich rückhaltlos gibt, und in Frau Silfverstolpe die intelligente Zuhörerin geschätzt zu haben scheint.

      Ich teile dies mit, weil es mir lieb ist, dass eine Landsmännin persönlich ähnliche Eindrücke von Rahel und von Bettina empfing wie ich sie erhalten habe: von Bettina als eines prachtvoll strahlenden Feuerwerks, von Rahel als eines still glühenden Feuers.

      Weil sie so war, kann sie Generation für Generation nicht nur von ihrem Lichte, sondern auch von ihrer Wärme geben.

      Dass dieses kleine Buch auch weiter Menschen zu Rahel selbst führen möge, ist meine innige Hoffnung.

      Strand, Alvastra, 25. März 1912.

      Ellen Key.

      I. Herkunft.

      Wir begegnen manchmal im Leben oder in der Literatur einem Menschen – zuweilen einem Mann, aber häufiger einer Frau – der nicht die Ausnahmestellung des schaffenden Genies, des ausübenden Künstlertums, der großen Gelehrsamkeit, der Tatkraft oder der Schönheit besitzt. Und doch übt dieser Mensch eine so bestimmende Macht auf unser Schicksal aus, daß unser Leben unter einen unvergänglichen Einfluß kommt, aber einen Einfluß, der nur Selbstbefreiung zur Folge hat.

      Denn das Geheimnis der Macht dieser seltenen Menschen besteht darin, daß sie selbst durch und durch Persönlichkeiten sind und bei allen anderen nur die Persönlichkeit suchen. Ein solcher Mensch kann einer verflossenen Zeit angehören und uns doch mit einem wunderbaren Gefühl der Coexistenz beseelen. Weil nichts an ihm zeitgemäß konventionell war, fühlen wir, daß er nicht nur so wie wir Menschen von heute gedacht, sondern auch, was noch seltener ist, so geliebt und gelitten hat. Alles an ihm ist so ursprünglich, so naturstark, daß man ein Spiel der Morgenkraft der Menschheit zu sehen glaubt und zugleich eine Offenbarung der ethischen Tiefe, der ästhetischen Feinfühligkeit und der psychologischen Kompliziertheit empfängt, die das schließliche Resultat der Entwicklung der Menschheit sein wird. Während wir sehen, wie die Gedanken und Gefühle eines solchen herrlichen Wesens in ungezähmter Natürlichkeit dahinstürmen wie ein Dionysoszug, doch nur von Lebenskraft berauscht, fühlen wir uns selbst immer mehr vom Schein und von der Zufälligkeit befreit. Wir lernen glauben, daß das für einen jeden eigentümliche das für das Ganze unentbehrliche ist; unbedenklich, ja gedankenlos beginnen wir wir selbst zu sein, und unter dem Einfluß der Wahrheitsleidenschaft dieser großen Persönlichkeit fassen wir nicht, wie wir unsere schützenden Verkleidungen anlegen konnten – oder wie wir die Maske wieder aufnehmen sollen, hinter der wir unsere wirklichen Züge verborgen haben. Wir ahnen, welche Bedeutung ein Mensch für seine Zeitgenossen besessen haben muß, der uns schon dadurch, daß wir einzelne Züge seines Wesens in einem Tagebuch oder einer Briefsammlung auffangen konnten, in solche Bewegung versetzt hat. Wir sehen ein, daß das bloße Faktum, daß er gelebt hat, ein ungeheurer kulturhistorischer Einsatz war, ein niemals aufhörendes Entwicklungsferment.

      Eine solche Persönlichkeit, die in konkreter Fülle das war, was die höchsten Geister unter ihren Zeitgenossen durch ihre Ideen anstrebten, eine Persönlichkeit, die unsere Zeit vorbereitete, indem sie ihre Mitlebenden prophetisch lehrte, auf die Wahrheiten zu hoffen, von denen wir heute leben – war Rahel.

      Aber wenn der erste Eindruck, den Rahel mitteilt, ein solch überströmender Lebensreichtum, eine solche Ursprungskraft ist, so ist der nächste, daß hier wie allenthalben die Tragödie der Mittelpunkt der Dionysien war.

      Die Wurzel ihres Wesens zeigt – wie die der Orchis maculata – eine lichte und eine dunkle Hand, die eng miteinander verschlungen sind.

       * * *

      Lange hielt Rahel selbst ihre jüdische Herkunft für den dunklen Teil ihres Schicksals. Und sie hatte in dem Sinne recht, daß ihre Abstammung von einem Jahrtausende hindurch leidenden und gedemütigten Volk ihre eigene Natur und dadurch ihre Erlebnisse bestimmte. Von außen gesehen, war hingegen Rahels Kindheit und Jugend gerade die Zeit der Befreiung, namentlich für die Berliner Juden, eine Zeit, in der sie aus ihrer abgesonderten und verachteten Stellung mit jener Raschheit heraustraten, die selten der Einfluß der Gesetzgebung, wohl aber der des Zeitgeistes ermöglicht.

      Friedrich der Große tat nicht viel, um die Stellung der Juden gesetzlich zu ändern. Aber die Vorurteilslosigkeit, die sich von ihm in immer weitere Kreise verbreitete, kam auch den Juden zugute; und zu dieser mittelbaren Einwirkung trat noch die unmittelbare durch Moses Mendelssohn, den Befreier der Juden aus ihren eigenen Vorurteilen, ihren Wecker zur Erkenntnis ihrer eigenen Kräfte. Bisher hatten die Juden nach seinen Worten nur im »Beten und Leiden, nicht im Wirken« ihre Stärke gezeigt. Er weckte in ihnen den Freiheitswillen und den Entwicklungstrieb. Selbst Theist im Geiste der Aufklärungszeit blieb er doch in der jüdischen Religionsgemeinschaft, um von innen heraus Vorurteile jener Art bekämpfen zu können, die z. B. – einige Jahre, ehe Mendelssohns erste Schrift erschien – noch zur Folge hatten, daß ein jüdischer Knabe aus der mosaischen Gemeinde ausgestoßen wurde, weil er jemandem ein deutsches Buch aus einer Gasse in eine andere gebracht hatte! Mendelssohn wagte deutsch zu schreiben und das alte Testament zu übersetzen; er veranlaßte die Eröffnung einer Schule, wo die jüdische Jugend die deutsche Sprache erlernte – die Juden sprachen bis dahin einen Jargon, der weder deutsch noch hebräisch war – und Teil an den Schätzen der deutschen Bildung erlangte. So wurde der erste und stärkste Faden zu dem Bande gesponnen, das die Juden von Jahr zu Jahr immer fester mit dem deutschen Volk verknüpfte.

      Das Selbstgefühl, das unter Friedrich II. die preußische Nation in ihrer Gesamtheit erfüllte, steigerte auch das der Juden. Diese selben Juden, die noch immer unter Ausnahmegesetzen standen, von denen eines – noch 1802 erneuert – sie in einer Hinsicht Dieben und Mördern gleichstellte; diese selben Juden, unter denen noch ein Moses Mendelssohn erlebt hatte, daß auf einer Wanderung außerhalb des Judenviertels auf ihn und seine Kinder Steine geworfen wurden, diese selben Juden wurden jetzt nicht allein große Unternehmer auf ökonomischem und große Wohltäter auf philantropischem Gebiet, sie wurden auch in gesellschaftlicher Hinsicht tonangebend. Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts verkehrte nicht nur der männliche Teil der feinen Welt Berlins in den besten Judenfamilien, diese feine Welt suchte sogar eifrig Zutritt in das Heim dieser Familien zu erlangen.

      Gewiß waren diese Prinzen, Edelleute und Diplomaten oft zuerst durch Geldanleihen in Berührung mit den jüdischen Bankiers gekommen. Aber wenn diese Bankiers dann den jungen Herren ihre Salons öffneten, fanden diese dort so viel Anziehendes, daß es bald ein gesuchter Vorzug, dann guter Ton, schließlich eine Mode wurde, in diesen jüdischen Kreisen zu verkehren.

      Die jungen Männer, die mehr oder weniger von den Ideen der Zeit durchdrungen waren, fanden in den jüdischen Häusern einen inhaltsreicheren, vorurteilsloseren und ungezwungeneren Gesellschaftston als den, den ihre eigenen weiblichen Verwandten anschlugen. Die jungen, schönen, feingebildeten, lebensvollen Frauen, die in den jüdischen Salons den Ton angaben, luden z.B. Schauspieler und Schauspielerinnen ein, die damals in der Regel noch aus der »guten Gesellschaft« verbannt waren. Es wurde viel Musik gemacht, schöne Kunstwerke schmückten die Räume, Gelehrte, Dichter und Künstler fanden sich nicht nur ein, sondern sprachen sich mit mehr Freiheit aus als anderswo, angeregt durch die Damen des Hauses, die eine Ungezwungenheit, eine geistige Regsamkeit, eine Wärme entfalteten, wie sie den deutschen Hausfrauen dieser Zeit in der Regel fehlte. Und bald bringen die jungen Männer eine Schwester, eine Freundin mit, die auch an dem erlesenen Verkehr teilnehmen will, für den die männlichen Verwandten und Freunde so schwärmen. Auf diese Art erlangen die jüdischen Salons auch einen mittelbaren Einfluß auf die Entwicklung des Gesellschaftslebens in weiteren Kreisen.

      Die jüdische Frau erfüllt so zum erstenmal eine Kulturmission in der modernen Gesellschaft. In der eigenen europäischen Geschichte der Juden hatte sich schon früher mehr als eine Frau ausgezeichnet.