Pfäffling rüstete sich zur Reise. Seine Tasche war gepackt, alles lag bereit, am nächsten Morgen wollte er abreisen. Das Wetter war herrlich und lockte hinaus, er sang und pfiff den ganzen Tag vor Freude und unterbrach sich nur manchmal, um zu seiner Frau zu sagen: »Nächstes Jahr bist du an der Reihe,« oder zu den Kindern: »Wenn ihr groß seid, dürft ihr auch reisen.« Sie freuten sich alle mit ihm.
Aber – in der Nacht wurde Elschen krank. Sie konnte nicht sagen, was ihr fehlte, aber sie weinte und wimmerte und wälzte sich in ihrem Bett herum. Am frühen Morgen wurde der Arzt geholt. Er untersuchte, fragte und wurde nicht klug daraus, was dem Kind fehle. Als Frau Pfäffling sagte: »Mein Mann kann doch unbesorgt abreisen?« da zuckte er die Achseln und meinte: »Ich würde doch noch einen Tag zusehen.« Den ganzen Tag konnte die Kleine nichts essen und lag stöhnend im Bettchen, und am nächsten Tag fand der Arzt sie kränker als am vorhergehenden. Traurig schlichen die Kinder umher, jedes teilte die Angst der Eltern um die Kleine, alle Musik verstummte. In diesen Tagen waren Pfäfflings eine gute Mietpartei für die Hausleute.
Elschen aber konnte doch nicht schlafen, so sehr man ihr Ruhe verschaffte. Der kleine Frieder stand an ihrem Bett; ihn lächelte sie manchmal an und sprach auch ein paar Worte mit ihm, aber von den andern Geschwistern wollte sie nichts wissen. So ließ ihn die Mutter manchmal allein am Bett, wenn sie selbst nach der Haushaltung sehen mußte, die zwei hatten sich ja so lieb. Vater Pfäffling ging unruhig im Haus herum, an seine Reise dachte er schon fast nicht mehr, so groß war die Sorge um das Kind.
Eben war der Arzt wieder dagewesen. »Wenn ich nur erst herausfände, was dem Kinde fehlte,« sagte er, »aber so kann ich ihm gar nicht helfen.« Die Eltern begleiteten ihn hinaus und Frieder stand am Bett. Die kleine Schwester sah ihn an und streckte ihm die Händchen hin. »Elschen,« sagte er schmeichelnd, »willst du unsre schönen Glaskugeln?« und er schüttelte ein wenig das Büchschen, in dem dieses ihr gemeinsames Lieblingsspiel verwahrt war.
»Nein, nein, nein!« rief die Kleine mit ungewohnter Heftigkeit und streckte ihre Hände wie abwehrend gegen das Büchschen, und als Frieder es schnell beiseite legte, flüsterte sie ihm ganz leise zu: »Die rote Kugel schmeckt so hart.« Dann legte sie sich auf die Seite und schloß die Augen. Frieder blieb ganz still bei ihr stehen. Zuerst kam es ihm komisch vor, daß Elschen so etwas Dummes sagen konnte. Wer weiß denn, wie Kugeln schmecken! Frieder war kein großer Denker, aber nach einer Stunde war er doch mit seinen Gedanken so weit gekommen, daß er sich sagte: »Die rote Kugel ist nicht im Büchschen, vielleicht hat das Elschen sie gegessen.« Und nun fing er an, im Zimmer nach der Kugel zu suchen, ob sie nicht doch irgendwo lag. So trafen ihn die Eltern, gerade als er mit einem Stecken unter der Kommode herumfuhr und damit einigen Lärm machte.
»Ruhig, ruhig,« wehrte die Mutter, und der Vater, der immer neben der Sorge auch ein wenig Ärger empfand wegen seiner mißlungenen Reise, fuhr ihn ungeduldig an: »Geh doch hinaus zu den andern, was treibst du denn da?« »Ich muß die rote Kugel suchen, denn – –.« »Geh hinaus mit deinen Kugeln! Wenn du nicht still bei Elschen bleiben kannst, dann darfst du auch nicht mehr zu ihr,« und unsanft wurde der Kleine zur Türe hinausgeschoben.
Da ging er hinunter auf den Holzplatz, setzte sich auf einen Balken und dachte an sein Schwesterchen. Nach und nach wurde ihm alles klar: die rote Kugel war am Sonntag noch in der Büchse gewesen, dann war das Elschen krank geworden und seitdem war die Kugel weg. Und wenn das Elschen sie nicht gegessen hätte, dann wüßte es doch nicht, daß sie hart schmeckt. Und das hatte sie ihm deshalb ganz leise gesagt, damit es die Eltern nicht hörten, denn so eine schöne Glaskugel essen ist schade, da wird man gezankt. Der Bruder wollte auch seine Schwester nicht verraten, damit sie nicht gezankt würde, er sagte zu niemand ein Wort.
Am nächsten Morgen hatte er sich doch wieder an Elschens Bett gemacht. Die Eltern beachteten ihn nicht und sprachen miteinander. Sie erwarteten den Arzt. »Wenn er nun gar nicht herausbringt, was dem Kind fehlt,« sagte Vater Pfäffling, »dann müssen wir doch einen andern Arzt dazu holen.« »O ja, bitte,« sagte die Mutter, »laß ihn holen, ehe es zu spät ist, heute nacht habe ich schon gemeint, sie stirbt mir« – und die Mutter weinte. Daß seine Schwester sterben könnte, daran hatte Frieder noch gar nicht gedacht, und mit einemmal wurde es ihm ganz klar, daß er nicht verschweigen dürfe, was er wußte, lieber Elschen verraten als sie sterben lassen. Da klingelte schon der Arzt. »Mutter,« fing Frieder an, »du weißt doch, daß wir so eine rote Kugel haben –.« Aber die Mutter fiel ihm ins Wort: »Aber Frieder, meinst du denn, wenn das Schwesterchen so krank ist, will man etwas von deinen Kugeln wissen?«
Der Arzt kam und untersuchte die kleine Kranke. Unterdessen näherte sich Frieder dem Vater. »Vater,« begann er leise, »Vater, wir haben doch eine rote Kugel gehabt und – –« »O du mit deinen verwünschten Kugeln!« rief Herr Pfäffling so laut und ärgerlich, daß das kranke Kind erschreckt und der Arzt erstaunt herüber blickte und sagte: »Es wird immerhin besser sein, wenn die Kinder nicht im Krankenzimmer sind,« und Vater Pfäffling machte die Türe auf und wies mit strenger Miene dem Frieder den Weg. Der aber, der sonst nie wagte, ungehorsam zu sein, schlüpfte an der Türe vorbei zum Arzt, der über das Bett der Kleinen gebeugt stand und sie behorchte. Er schlang beide Arme um den Hals des Arztes und flüsterte ihm ganz leise zu: »Die rote Kugel hat das Elschen gegessen, ja, und darum ist sie krank.«
Die Eltern hatten nicht verstanden, was Frieder leise gesagt hatte, und so sahen sie mit Staunen, daß der Doktor sich von der kleinen Kranken weg eifrig dem Frieder zuwandte und nun, wahrhaftig – sie hörten es ganz deutlich – fing auch der Doktor an, von den Kugeln zu sprechen, die Herr Pfäffling eben verwünscht hatte. Der Arzt nahm den Frieder, der ein wenig ängstlich nach dem Vater hinübersah, auf die Kniee und redete sehr freundlich mit ihm, während die Eltern auf seine Worte lauschten. »Wie war denn das mit der Kugel, Frieder? Sage mir’s nur noch einmal ganz genau; weißt du, das muß ich alles erfahren, wenn ich deine Schwester gesund machen soll. Hast du es denn gesehen, daß sie die Kugel geschluckt hat? Nein? Aber erzählt hat sie dir’s? Was hat sie denn erzählt?«
»Nur daß die rote Kugel hart schmeckt. Und das weiß man doch nicht, wie die rote Kugel schmeckt, wenn man sie nicht gegessen hat. Und die Kugel ist auch nicht mehr da, sieh nur her.« Und Frieder öffnete das Kästchen. »Fünf müssen es sein, und es sind doch nur vier.« Elschen fing ängstlich an zu weinen. »Jetzt weint sie,« sagte Frieder und schien selbst den Tränen nahe, »ich habe sie doch auch nicht verraten wollen.«
»So etwas muß man verraten,« sagte der Arzt, und nun wandte er sich an die Eltern, die in große Aufregung versetzt waren durch Frieders Mitteilung. »Wenn es so ist, wie der Kleine sagt, dann kann dem Kind geholfen werden. Ich bin überzeugt, daß die Sache sich so verhält, denn nur durch so etwas läßt sich diese Krankheit erklären. Am besten ist es, ich bringe gleich heute nachmittag einen geschickten Chirurgen mit, vielleicht ist eine Operation vorzunehmen.« Frau Pfäffling erschrak darüber. »Unser Frieder ist so ein Dummerle,« sagte sie, »auf seine Reden hin kann man doch keine Operation vornehmen!«
»Der scheint mir gar kein Dummerle zu sein,« sagte im Fortgehen der Arzt, »wer weiß, ob Sie ihm nicht das Leben Ihres Kindes verdanken.« Die Mutter aber traute der Sache noch nicht und sie fing an, nach der Kugel zu suchen und rief alle Kinder zu Hilfe. In der ganzen Wohnung wurde aus allen Ecken vorgekehrt, der Vater setzte einen Finderlohn aus und in jedem Zimmer traf man eines der Kinder der Länge nach auf dem Boden liegend und unter die Möbel schlupfend, um zu suchen. Nur Frieder suchte nicht mit, er sah dem Treiben verwundert zu und sagte nur: »Ich habe schon lange gesucht, da ist unsere rote Kugel nie.«
Am Nachmittag wurde die Kleine so krank und schwach, daß es aussah, als ob sie den Abend nicht mehr erleben könnte, und so eilte Herr Pfäffling fort und holte die beiden Ärzte zur Hilfe. Sie kamen, brachten eine Krankenschwester mit, gingen ins Krankenzimmer und schlossen die Türe ab – niemand, nicht einmal die Eltern durften mit ihnen hinein. Das war nun eine bange Stunde. Die ganze Familie war im Wohnzimmer beisammen, lauschte auf die Geräusche, die hie und da aus dem Krankenzimmer über den Vorplatz herübertönten, und wartete. Der Mutter Auge ruhte auf Frieder. Sollte wirklich gerade dieses Kind, das kleine, unbeachtete Dummerle, den wahren Grund der Krankheit gefunden haben? Er saß ganz ruhig mit seinem Büchschen in der Hand da, während Herr Pfäffling aufgeregt im Zimmer hin und her lief und das lange Warten