Regan Holdridge

Wind über der Prärie


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Pfiffe aus. Es war das Zeichen, dass die letzten Passagiere aufgefordert wurden, an Bord zu gehen. Von einer Sekunde auf die andere brach tumultartikes Chaos aus und ein großes Drängen und Schieben begann.

      „Schnell!“ Hubert fasste seine beiden jüngeren Geschwister an den Oberarmen. Wie immer fühlte er sich als Ältester für sie verantwortlich. „Wir dürfen Vater und Mutter nicht verlieren!“

      Sie kämpften sich durch die Menschenmenge, die es nun auf einmal, da die Zeit drängte, sehr eilig hatte, an Bord zu gelangen. Vor den Holzprielen bildeten sich lange Schlangen, die alle noch mit aufs Schiff wollten.

      „...deshalb hoffen wir, dass es Ihnen im neuen, gelobten Land nur bestens ergehen wird!“, erklärte der Vorstand ihrer Kirchengemeinde jetzt und schüttelte Friedrich Kleinfeld die Hand. „Sie werden uns sehr fehlen, Pastor!“

      „Sie mir auch! Alle werdet ihr mir fehlen – die ganze Gemeinde!“, versicherte Friedrich und schob seinen schwarzen, breitkrempigen Hut zurecht, den er immer auf seiner Glatze trug, sobald er aus dem Haus ging. Dazu hatte er seine lange, schwarze Kutte über seine Alltagskleidung gezogen, denn jeder sollte sehen, dass er mit Leib und Seele Geistlicher war und sich in jedem Moment seiner Aufgabe verpflichtet fühlte.

      Einen Schritt hinter ihm, freundlich lächelnd, jedoch ohne sich in das Gespräch einzumischen, stand Luise. Im Vergleich zu seiner großen, breiten Erscheinung wirkte sie trotz ihrer Fülle sehr klein und unauffällig. Außer ihrem Gesicht war keine nackte Haut zu erblicken. Ihr rotblondes Haar steckte fest unter der dunkelbraunen Haube und ihre Hände wiederum in feinen Strickhandschuhen. Sie wandte kurz den Kopf, als sie ihre drei Kinder hinter sich bemerkte. Sie nickte Hubert und Nikolaus zu, bevor sie Juliane einen strengen Blick zuwarf. Das junge Mädchen ignorierte die unübersehbare Kritik gegenüber ihrem Erscheinungsbild jedoch völlig und lächelte stattdessen freundlich in die Runde der Menschen, die die Mühe auf sich genommen hatten und von Wittenberge bis nach Bremerhaven gereist waren, um sich hier von ihnen zu verabschieden. Alle waren sie angesehene Bürger der Stadt und Mitglieder des Kirchenvorstands. Ihr Vater hatte die protestantische Gemeinde kurz nach seiner Heirat übernommen. Seitdem lebte und arbeitete er dort. Es war für niemanden ein Abschied, der ohne etwas Wehmut begangen wurde.

      „Ich glaube, es ist besser, wir stellen uns gleich einmal hinten an der Schlange an, bevor sie noch länger wird!“, meinte Friedrich jetzt, während er reihum ging und den Männern und deren Gattinen, die teilweise ebenfalls mitgekommen waren, zum Abschied die Hand reichte. Auch, wenn er sich zuversichtlich und voller Vorfreude gab – ein wenig Traurigkeit machte sich dennoch in ihm breit. Es war ein Abschied ohne Wiedersehen. Amerika wartete auf ihn, mit neuen, anderen Herausforderungen, die er sonst nirgendwo auf sich nehmen konnte.

      „Nun“, meinte er schließlich und fasste seine Frau am Ellenbogen. „Es wird Zeit für uns.“

      „Auf Wiedersehen!“ – „Schreiben Sie uns bald!“ – „Gott sei mit Ihnen!“ – „Alles Gute!“ drang es aus den Kehlen ihrer Freunde und Nachbarn. Winkend und lächelnd führte Friedrich seine Familie in Richtung Schiff. Ganz allmählich lichtete sich der Nebel und der Sonne gelang es, durch den Schleier zu brechen. Fast schien es, als ob ihre Strahlen nicht nur die Stille zerbrachen, sondern auch die Aufregung in ihnen allen weckte.

      „Ich will als erster rein!“, rief Nikolaus immer wieder, während er auf der Stelle hüpfte, um zu sehen, wieviele Passagiere noch vor ihnen auf Einlass warteten. Es ging nur sehr langsam vorwärts und durch die vielen Schaulustigen, Verwandten und Freunde der Reisenden, die alle noch am Pier herumstanden, sich unterhielten und darauf warteten, dass der Dampfer ablegte, war eine Unterscheidung zwischen ihnen nicht möglich.

      Luise seufzte. „Ich bin froh, wenn wir unsere Kabine haben und ich mich ein bisschen hinlegen kann!“

      „Aber ich will ganz oben stehen und zuschauen, wenn wir ablegen!“, rief Nikolaus, erschrocken, das Spektakel des Auslaufens verpassen zu können.

      „Ja, ja! Keine Sorge! “ Lächelnd legte Hubert ihm seine Hände auf die Schultern. „Das machen wir beide schon!“

      „Ich will auch mit!“, rief Juliane laut, was ihr einen empörten Blick ihrer Mutter einbrachte.

      „Wirst du dich wohl zusammenreißen? Es gehört sich nicht, in einer solchen Lautstärke herumzuschreien! Schon gar nicht, wenn es darum geht, sich mitten unter die Mannsbilder zu mischen!“

      Ehrfürchtig senkte das junge Mädchen den Blick und starrte auf die Spitzen ihrer einfachen Lederriemenschuhe, die sie unter ihrem einzigen Sonntagskleid mit dem Unterrock trug. Sie verabscheute es, von ihrer Mutter belehrt und zurechtgewiesen zu werden, doch sie wagte nicht, ihr zu widersprechen, denn sie wusste, dass ihr Vater seiner Frau niemals in den Rücken fallen würde. Und wenn Luise der Überzeugung war, ihre Tochter verdiente eine ordentliche Strafe, dann erfolgte diese prompt und ohne lange Diskussionen, denn ihre Hand war schnell und schmerzhaft.

      Es dauerte beinahe eine Stunde, ehe Friedrich ihre fünf Fahrkarten gegen ein Zahlenschild eintauschen konnte.

      „Kabine 431“, erklärte der junge Matrose und hakte ihre Namen auf der Passagierliste ab. „Einmal die Treppe hinunter und dann nach links. Immer den Ausschilderungen folgen!“

      „Gut, danke!“, erwiderte Friedrich und schob Luise vorwärts. Er drehte sich um, ob seine drei Kinder noch da waren und als er sie hinter sich herlaufen sah, beschleunigte er seinen Schritt etwas. Sie marschierten einen unglaublich langen Korridor entlang, bis sie an eine Treppe gelangten, die in der einen Richtung nach oben aufs Deck führte und in die andere nach unten, zum Zwischendeck, der dritten Klasse.

      „Also schön, dann lasst uns nach unserer Kabine suchen“, sagte Friedrich, während er den Gang entlang weiter marschierte, in dem sich bereits unzählige Menschen aufhielten, einander beobachteten oder sich unterhielten. Kinder rannten auf und ab, beim aufgeregten, erwartungsvollen Spiel. Sie mussten sich vorbeizwängen, um Platz bitten und über Koffer und Gepäckstücke steigen.

      „Hier ist es!“ Hubert entdeckte die Tür als Erster.

      „Ah!“, machte sein Vater und drückte die Klinke der unverschlossenen Tür.

      Der Raum war kurz und schmal. Es gab als einzige Einrichtungsgegenstände jeweils zwei Doppelbetten an den beiden Wänden.

      „Was bin ich froh, dass wir zumindest unter uns sind!“, stieß Luise erleichtert hervor. „Wenn ich mir vorstelle, wir hätten in einem der größeren Kabinen einen Platz bekommen, mit zig fremden Menschen...“ Sie brachte den Satz mit einem abgeneigten Kopfschütteln zu Ende und deutete dafür auf die beiden Betten. „Die Kinder sollen oben schlafen, sie sind noch jung und kommen da leichter hinauf als wir beide. Was meinst du, Friedrich?“

      „Du hast völlig recht!“, stimmte ihr Mann zu und befahl Nikolaus mit einer Handbewegung, die Türe zu schließen. Der Lärm und das Stimmengewirr wurden leiser.

      „Schade, dass wir kein Fenster haben“, meinte Juliane und zog sich ihre Strickweste aus, um sie auf das rechte obere Bett zu werfen.

      „Bullauge“, verbesserte Hubert sie grinsend. „Bullauge nennt sich das auf einem Schiff.“

      „Von mir aus! Aber sowas haben wir ja auch nicht!“ Sie schaute sich um. In dieser winzigen Kammer würden sie die nächsten Tage also verbringen, bis sie hoffentlich in New York einlaufen würden.

      „Juliane!“, sagte Luise streng und deutete auf die Weste. „Leg’ das ordentlich zusammen, wie ich es dich gelehrt habe! Danach kannst du die Jacken deines Vaters und deiner Brüder dort an die Haken an der Türe hängen und meinen Umhang ebenfalls.“

      Eine Sekunde lang wollte das junge Mädchen aufbrausen und protestieren. Sie hasste es, für ihre Mutter die Hausarbeiten erledigen zu müssen, doch ihr Anstand und ihre strenge Erziehung verboten es ihr, sich zur Wehr zu setzen – noch, denn sie fühlte, dass der Tag nicht mehr weit sein würde, an dem sie ohne schlechtes Gewissen „Nein“ sagen konnte und ganz allein das tun, was sie für gut und richtig hielt. Im Augenblick jedoch blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zu beugen und den Befehlen