Willi M. Dingens

Evolution? Es kommt wie es kommt - Nur ganz anders


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so recht. Häufig aufstoßen zu müssen ist schon lästig. Aber die permanenten Blähungen sind, wenn man dicht gedrängt in Kolonien lebt, unerträglich.

      Auf einem Meeting diskutierten die Cyanos sehr offen die Situation. Einige machten darauf aufmerksam, hier oben scheine doch häufig die Sonne, gibt es viel Licht, und das sei doch pure Energie. Und die Strahlung käme noch ziemlich ungehindert durch die Atmosphäre hindurch. Warum nutzen wir nicht, fragten sie in die Runde, die Energie der Sonne? Da müssen wir nicht mal Gebührenerhöhungen durch den Energiekonzern befürchten, der muss uns die Energie kostenlos liefern, das steht so in den Allgemeinen Liefer- und Geschäftsbedingungen der Firma Solarzon.

      Und so erfanden die Cyanos die Photosynthese, bei der das energetisch eher unbedeutendes Kohlendioxid und das auch energiearme Wasser mittels Sonnenenergie in energiereiche Kohlenhydrate umgewandelt werden. Ein erstaunlich effizienter Prozess.

      Der Mensch versucht sich auch in der Nutzung des Energielieferanten Sonne. Er muss dazu heute mehr oder weniger große Flächen mit spiegelnden Quadraten belegen und auf die Dächer der Häuser oder in die Landschaften setzen und klopft sich für diesen Erfindungsgeist lobend auf die eigenen Schultern. Die frühen Zellen erfanden ein Energie-Umwandlungssystem, für das Sonnenlicht, Kohlendioxyd und Wasser notwendig sind, mehr nicht. Drei reichlich vorhandene Komponenten; genial. Warum fällt unseren Wissenschaftlern eigentlich so etwas nicht ein?

      Aber es ist ja oft so, dass gute Lösungen eben auch unangenehme und nicht direkt gewollte Nebenwirkungen haben. So genial die Erfindung der Photosynthese war, sie hatte eben auch eine dunkle Seite. Der Prozess setzte nämlich einen Stoff frei, der für die Cyanos ein tödliches Gas war: Oxygenium.

      Das wussten die Cyanos freilich nicht, denn der Begriff ist aus dem Altgriechischen abgeleitet und die alten Griechen gab es in der jungen Erdzeit noch gar nicht, junge Griechen auch nicht. Das mit dem Begriff ist sowieso so eine Sache. Er ist aus zwei Begriffen zusammengesetzt, oxys bedeutet soviel wie spitz oder scharf, gennáo steht für erzeugen oder gebären. Warum man den Stoff, den die Cyanos da erzeugten, aber Säureerzeuger nennen musste, ist schon schleierhaft. Der deutsche Begriff ist mit Sauerstoff auch nicht viel besser. Oxygen ist völlig farb-, geruch- und geschmacklos, und dann heißt es Sauerstoff? Aber das ist nicht den Cynaos anzulasten, die photosynthesierten unermüdlich vor sich hin und dachten sich nichts Böses dabei.

      Zunächst war das ja auch kein großes Problem. Sauerstoff ist zwar im Universum das dritthäufigste Element und wird fleißig in den Sternen produziert, aber er ist auch außerordentlich bindungswillig. Deshalb war er in jenen frühen Zeiten im Erdmantel in fast allen Mineralen vertreten, aber eben gebunden. Die Atmosphäre war in jenen frühen Jahren sauerstofffrei. Für die Cyanos war das Gas trotzdem wenig gesundheitsfördernd. Genauer gesagt, es war für sie das reine Gift. Eigentlich hätten sie die Sauerstoffproduktion deshalb stark reglementieren oder mit einer höheren Steuer belegen, wenigstens verbindliche Grenzwerte festlegen müssen.

      Den Cyanos aber kam die damalige Umwelt entgegen. Im Urmeer gab es nämlich reichlich Eisen. Mit dem verbandelte sich der Sauerstoff nach Herzenslust. Eisenoxid sah zwar nicht so ganz gesund aus, aber konnte den Cyanos nichts anhaben, das Oxygenium im Oxid auch nicht. So konnten sie sich weiter tummeln und mussten sich über eine eventuell notwendige Sauerstoffausstoßsenkung zunächst keinen Kopf machen.

      Dass das Meer nun langsam vor sich hin rostete, war ihnen ziemlich egal. Uns heute nicht, denn so erfanden die Cyanos ungewollt auch noch die riesigen Eisenerzlagerstätten, die wir heute gut gebrauchen können. So hängt vieles miteinander zusammen, oder wie ein altes deutsche Sprichwort sagt: Was dem enen sin Uhl, ist dem andern sin Helene; oder umgekehrt.

      Und das setzte sich fort. Einige der Wesen aus der Tiefe kamen als Touristen in die wärmeren Regionen des Meeres. Vielleicht trieb sie auch der Hunger dahin, oder der Zufall der Meeresströmungen. Wahrscheinlich aber mehr der verdammte Sauerstoff, der auch für die Tiefseeexoten eine ziemlich giftige Angelegenheit war.

      Noch immer auf den Gärungsprozess angewiesen, sagten sich einige von ihnen, vielleicht gären ja die Cyanos auch ganz gut. Lasst es uns einfach mal probieren. Nach dem sie ein wenig von den Cyanos genascht hatten, stellte sich schnell heraus, dass die neue Kost recht bekömmlich war. Und sie war überreichlich vorhanden und leicht erreichbar, denn die Cyanos siedelten zu Billionen in riesigen Kolonien.

      Unter den Touristen war auch Archaeus Xtrmo, ein junger Bursche, von dem wir leider nicht sehr viel wissen, außer, dass er ebenfalls auf die Vergärung von Cyanos angewiesen sein musste. Er war wohl ziemlich verfressen, denn unter Kumpels soll er schon auch mal Archaeus Nimmersatt gerufen worden sein. Das ist ein unbestätigtes Gerücht, muss ich einräumen.

      Bestimmt war Archaeus auch relativ faul. Fressen war sein ganzer Lebensinhalt. Sex war noch nicht erfunden, Sport auch nicht. Kreativität war nicht groß gefragt, warum auch. Nahrung in Form von Cyanos gab es überreichlich, man musste sie nicht einmal jagen, nur in sich aufnehmen, einige Enzyme einsetzen und verdauen.

      Eines Tages, es soll ein Freitag kurz vor Ostern gewesen sein, geschah das Denkwürdige, das die Evolution des Lebens sehr prinzipiell veränderte, in völlig neue Bahnen lenkte und zu neuen Ufern aufbrechen ließ. An jenem Tag sollen sich nämlich Archaeus Xtrmo und Azzurro Cyano direkt und ganz persönlich begegnet sein. Was dann geschah, gibt uns noch heute Rätsel auf, wenn es geschah. Von vielen fundamentalistischen Evolutionsbiologen wird das freilich bis heute bestritten. Jedochallerdings gibt es starke Indizien, dass es doch irgendwie geschehen sein muss.

      Jedenfalls soll das passiert sein: Archaeus und Azzurro begegneten sich und es war zunächst wie üblich. Archaeus nahm den kleinen Azzurro in sich auf. Üblich wäre nun gewesen, dass Archaeus Enzyme eingesetzt hätte, um Azzurro zu zersetzen und das Vergorene in Energie umzuwandeln. Aber das geschah nicht. Azzurro wurde nicht zersetzt und nicht vergoren, blieb einfach als Azzurro in Archaeus und photosynthesierte dort vor sich hin.

      Niemand kann heute das Unglaubliche wirklich erklären. Hatte sich Archaeus überfressen? Hatte er einen Anfall pathologischer Faulheit? Beherrschte Azzurro einen Trick, sich gegen die Enzyme und die Vergärung erfolgreich zur Wehr zu setzen? Oder war da zum allerersten Mal in der Geschichte der Lebewesen das Prinzip Liebe auf den ersten Blick in Kraft getreten? Waren sich die beiden so überaus sympathisch, dass bei Archaeus das wirkte, was man später nach Erfindung der Zähne als Beißhemmung bezeichnete? Oder war Archaeus schon so weitsichtig, sofort zu erkennen, welche Chance sich ihm da bot?

      Vielleicht ging es ja auch gar nicht um Persönliches und Individuelles, vielleicht war Größeres im Spiel, Fundamentaleres. Vielleicht steckte die Evolution als solche dahinter. Vielleicht hatte sie nun doch mal die Fachleute befragt oder das Handbuch Evoluschen vor Dummies gefunden, nachgeschaut und gesehen, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, den nächsten Schritt vom ganz Primitiven zum höher Primitiven einzuleiten und hatte sich dafür Azzurro und Archaeus ausgesucht, zufällig, oder weil die beiden dafür eine besondere, aber unbekannte Eignung besaßen. Wir wissen es nicht.

      Irgendwie müssen sich die beiden neuen Freunde miteinander verständigt haben, bestimmt durch den Austausch diplomatischer Noten auf chemischer Basis. Jedenfalls begriffen beide, dass sie zum beiderseitigen Vorteil agieren konnten und sich damit ihr Leben ganz wesentlich erleichtern würden. Archaeus stellte fortan dem kleinen Azzurro Kohlendioxid, Wasser und andere notwendige Lebenselixiere zur Verfügung, garantierte auch Schutz vor Fressfeinden und den Abtransport des giftigen Sauerstoffs. Und Azzurro lieferte seinem freundlichen Wirt kostenlos ATP. Er kurbelte alsbald sogar, gut versorgt und geschützt, eine solche Überproduktion von ATP an, dass Archaeus schließlich auf die Vergärung ganz verzichten konnte. Er musste nur noch Azzurro mit allem Notwendigen für die Photosynthese versorgen, der erledigte den wichtigen Rest.

      Das kann man gar nicht genug loben, hervorheben, würdigen und preisen. Die Kooperation mittels Symbiose war erfunden. Später bezeichnete man das als Win-Win-Situation. Ja, das ist keine Erfindung studierter Fachleute der heutigen Zeit, das war schon vor langer, langer Zeit Praxis. Und ganz ohne die Arbeiten von Wissenschaftlern.

      Aber das war ja noch nicht alles. Es blieb nicht bei Archaeus und Azzurro. Irgendwie muss sich das mit der Win-Win unter den damaligen Bakterien-Sippen