Ivy Bell

Ein Spatz im Advent


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erwiderte darauf lieber nichts. Sie hatte keine Lust auf Streit. Der Tag war schon schwer genug, da mussten sie nicht auch noch streiten.

      Vor einem Jahr waren ihre Eltern in ein Kleinflugzeug gestiegen, um einen Rundflug über Stockholm und die Schären zu machen. Leider war das Wetter plötzlich umgeschlagen, angeblich hatte niemand damit rechnen können. Es fing an zu stürmen und die kleine Maschine verschwand vom Radar. Funkkontakt gab es auch keinen mehr. Einen Tag später fand man die zertrümmerte Maschine auf einer Wiese außerhalb von Stockholm, gar nicht so weit vom kleinen Flughafen Bromma entfernt, auf dem sie landen wollten. Alle fünf Insassen waren tot.

      Die damals siebzehnjährige Emma war in ein tiefes Loch gefallen. Sie wollte nichts mehr essen, nicht mehr zur Schule gehen, gar nichts mehr tun. Ihre drei Jahre ältere Schwester Carla hatte funktioniert, wie immer. Sie hatte ihr Studium unterbrochen, um bei ihrer Schwester zu sein. Das Haus ihrer Eltern kam ihr kalt vor, so ohne das helle, fröhliche Lachen der Mutter und ohne ihren Vater, der immer so viel Ruhe ausgestrahlt hatte. Als Carla dort angekommen war, hatte ihre Tante Doris mit verweinten Augen in der Küche gesessen und ihr mitgeteilt, dass Emma im Bett lag, seit sie vom Tod ihrer Eltern erfahren hatte. Carla ging also zu Emmas Schule und erklärte dort die Lage. Man gab ihr Unterlagen mit und erklärte ihr, dass Emma spätestens im neuen Jahr wieder in der Schule erscheinen müsse, damit sie an den Abiturpüfungen im Frühling teilnehmen konnte. Carla ließ Emma trauern, redete mit Engelszungen auf sie ein, damit sie wenigstens einen Blick in die Unterlagen warf, organisierte mit Doris die Überführung und Beerdigung der Eltern, kochte und putzte. Emma trauerte und war zu nichts in der Lage. Am Tag der Beerdigung, am 8. Dezember 2001, standen Emma und Carla mit ihrer Tante und ein paar Freunden am Grab ihrer Eltern und konnten nicht fassen, was geschehen war. Ihre Eltern waren doch noch jung gewesen, sie hatten noch so viel vorgehabt.

      Der Leichenschmaus in einem weihnachtlich geschmückten Restaurant kam ihnen so unpassend vor. Die Weihnachtszeit hatten sie immer geliebt, vor allem Emma. Sie hatte mit Hingabe gebacken, das Haus geschmückt, Geschenke vorbereitet und gebastelt. Dieses Jahr hatte sie zu nichts Lust.

      Das Weihnachtsfest danach war das traurigste, welches sie je erlebt hatten. Sie saßen einfach nur da, redeten über ihre Eltern, über das Weihnachten im Vorjahr, als alle noch zusammen waren, weinten und hielten sich fest. Ihre Tante Doris war untröstlich, dass ihr kleiner Bruder, Emmas und Carlas Vater, so früh gehen musste. Auch ihre Schwägerin vermisste sie schrecklich.

      Silvester verbrachten sie im Pyjama, sie hatten verständlicherweise keine Lust auf eine Party. Aber Carla bestand um Mitternacht darauf, auf das neue Jahr anzustoßen, da es ihrer Meinung nach nur besser werden könne.

      Im neuen Jahr raffte Emma sich dann tatsächlich auf und besuchte wieder die Schule. Carla hatte an der Uni ein Urlaubssemester beantragt und blieb erst einmal bei ihrer Schwester. Emma schaffte ihr Abitur und zog im Sommer 2002 mit ihrer Schwester nach Hamburg, um sich darüber klar zu werden, was sie beruflich machen wollte. Carla nahm ihr Studium wieder auf und jobbte nebenbei.

      So verging das erste Jahr nach dem Tod ihrer Eltern. Nun saßen sie hier zusammen, in ihrer kleinen Küche mit dem französischen Balkon, draußen nieselte es, die Wohnung war dreckig und in Carla begann es zu brodeln. Seit einem Jahr war sie für alles zuständig. Sie musste die Starke und Vernünftige sein, weil die kleine Emma ja so litt. Als ob sie nicht traurig war und nachts in ihr Kissen geweint hatte. Seit dem Sommer wohnten sie zusammen in ihrer kleinen Wohnung, Carla studierte und arbeitete, Emma kümmerte sich um nichts. Weder um einen Job, noch um einen Ausbildungs- oder Studienplatz. Da wäre es doch nicht zu viel verlangt, wenn sie wenigstens mal die Waschmaschine anstellen oder Geschirr spülen würde. Carla atmete tief durch.

      »Hör mal, Emma, so geht das nicht weiter. Du hängst seit einem Jahr herum und tust nichts.«

      »Stimmt doch gar nicht, ich habe immerhin mein Abitur geschafft, obwohl Mama und Papa gerade gestorben waren!«, brauste Emma auf.

      Carlas Augen wurden schmal.

      »Das ist auch ganz toll, aber das ist nun auch schon wieder über ein halbes Jahr her. Irgendwann musst du mal wieder am Leben teilnehmen. Du kannst nicht ewig hier herumsitzen und Trübsal blasen. Ich bin mir sicher, es würde dir sehr guttun, wenn du unter Menschen kommen und mal wieder etwas tun würdest.«

      Die beiden Schwestern starrten sich an. Emma seufzte.

      »Du hast ja recht, es tut mir leid. Ich weiß nur wirklich so gar nicht, was ich machen soll. Ich weiß nicht, was mir gefallen könnte. Und die Weihnachtszeit geht mir auf die Nerven. Egal wo ich hingehe, überall schallen mir Weihnachtslieder entgegen, alles glitzert und blinkt, alle sind so verdammt glücklich.« Emma zog geräuschvoll die Nase hoch.

      Carla setzte sich zu ihr und strich ihr über den Rücken.

      »Aber eigentlich bist du doch diejenige, die immer auf Menschen zugegangen ist. Du hast ein untrügliches Gespür, wer es ehrlich meint und wer nicht. Mit deiner Menschenkenntnis hast du nie daneben gelegen. Vielleicht könntest du ja Sozialarbeiterin werden oder so etwas? Oder Ärztin?«

      »Für Medizin ist mein Abitur zu schlecht, außerdem habe ich zwar Menschenkenntnis, kann aber kein Blut sehen. Sozialarbeiterin, da hätte ich ja dauernd mit dem Elend anderer zu tun. Nein, ich glaube, das ist nicht das Richtige. Aber ich gehe nächste Woche zum Arbeitsamt und informiere mich. Und morgen putze ich die Wohnung.« Emma grinste ihre Schwester an.

      Die beiden verbrachten den Abend damit, in alten Erinnerungen zu schwelgen und Bilder anzusehen. Und gegen Mitternacht gingen sie endlich mal wieder ausgiebig tanzen, mit dem guten Gefühl, dass ihre Eltern, wo immer sie auch waren, mit Sicherheit keine ewig Trübsal blasenden Töchter haben wollten.

      Emma stand auf der Schleusenbrücke und starrte ins Wasser. Sie war extra früh aufgestanden und zum Berufsinformationszentrum gefahren. Dort war es laut und unruhig gewesen, mehrere Schulklassen hatten anscheinend ausgerechnet heute die gleiche Idee gehabt wie sie und waren ebenfalls dort. Die Schüler lachten und sahen die bereitgestellten Unterlagen durch, Angestellte wuselten genervt zwischen den Jugendlichen herum, stellten liegengelassene Ordner wieder an den richtigen Platz und sortierten achtlos hingeworfene Infobroschüren zurück in die Aufsteller. Emma hatte zunächst versucht, sich alleine zurechtzufinden. Da sie aber keinen Schimmer hatte, in welche Richtung ihre Berufswahl gehen sollte, ob sie studieren oder eine Ausbildung machen wollte, hatte sie sich schließlich zaghaft einer Angestellten genähert. Diese hatte sich zwar geduldig Emmas Erklärungen angehört, dann aber darauf hingewiesen, dass man dafür ein Beratungsgespräch in Anspruch nehmen müsse. Termine dafür würde Emma bei der Info machen können, heute hätte das Zentrum aber nur noch bis 12:30 Uhr geöffnet und alle Termine seien schon vergeben.

      Emma hatte sich noch ein wenig umgesehen, aber von dem Gewusel bekam sie Kopfschmerzen. Außerdem standen sogar hier Weihnachtsgestecke herum, und auf Weihnachten hatte Emma noch gar keine Lust.

      Schließlich hatte sie das Berufsinformationszentrum verlassen und war die Kurt-Schumacher-Allee hinuntergelaufen, über die Altmannbrücke und die Steinstraße, die dann in die Domstraße mündete. Anschließend hatte sie sich rechts gehalten, bis sie am Rathaus angekommen war. Und nun stand sie auf der Schleusenbrücke im eisigen Wind und blickte in die Alster.

      Sie hatte Heimweh. So gerne wäre sie wieder in ihren kleinen, gemütlichen Heimatort an der Ostsee zurückgekehrt und hätte sich in ihrem Elternhaus verkrochen. Aber das wäre nicht mehr das Gleiche wie früher. Ein paar kleine Kinder kamen vorbei und trällerten Weihnachtslieder mit ihren hohen Stimmen. Emma blickte ihnen nach. Weihnachten. Das zweite Mal ohne ihre Eltern. Sie hatte gelesen, dass das erste Jahr nach dem Verlust eines geliebten Menschen das schlimmste wäre. Bei jedem Fest, jedem besonderen Tag würde man denken »letztes Jahr war er oder sie noch da«. Nach einem Jahr würde es dann langsam besser werden. Aber wie war das, wenn man auf einen Schlag zwei geliebte Menschen verloren hatte? Brauchte man dann zwei Jahre, bis es langsam