Ylvie Wolf

LOS


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wusste mehr, denn ihre Mutter arbeitete für die hiesige Tageszeitschrift. »Wusstet ihr auch das Allerdümmste? Sie prahlen damit, dass die Initialen ihrer Vornamen den Namen Hure ergeben.«

      Während Erik konsterniert dreinschaute, lachte Daniel: »Also die Initialen von unseren Geschwistern ergeben dann…«

      »PJED.« Jetzt grinste Erik wieder.

      Melina lächelte. »Tja, da hat sich eure Mutter ja ganz schön vertan.«

      »Wir sollten los, wir wollten doch noch Eis essen.« Mit den Worten stand Erik auf und klopfte sich die Grashalme von der kurzen Hose.

      Glücklich nahm Melina seine dargebotene Hand und ließ sich hochhelfen. Während sie sich auf den Weg ins Dorf hinab machten, fiel Melina ins Grübeln. Sie liebte die Zeit, die sie mit den Brüdern verbrachte. Und sie ertappte sich erneut, wie sie zu Erik hinüberschielte. Hitze stieg erneut in ihre Wangen auf.

      »Wenn man vom Teufel spricht.« Daniels Gesicht verdüsterte sich.

      Ihnen kamen die Jugendlichen entgegen, über die sie vor wenigen Minuten gesprochen hatten. Ihre Münder verzogen sich zu höhnischen Grimassen, als sie die Drei sahen.

      »Sieh an, sieh an, die Hinterwälder und das hässliche Entlein.«

      »Halt die Klappe, Uwe.« Erik ballte die Hände zu Fäusten.

      Beruhigend legte Melina ihm ihre Hand auf den Oberarm. So verhalten und abgeklärt Erik normalerweise war, sobald man etwas gegen ihre Familie sagte, war mit ihm nicht zu spaßen.

      »Halt die Klappe, Uwe.« Der Angesprochene äffte Erik nach und die anderen lachten.

      Melina spürte den wachsenden Unmut der beiden Jungen neben sich. Sie griff nach ihren Händen und zog sie mit sich. »Ach, lasst die Idioten doch. Sollen sie sich in ihrem Huren-Dasein baden und wohlfühlen.«

      Das brachte Daniel und Erik zum Lachen, die Anspannung fiel von ihnen ab.

      Melina warf einen letzten Blick über die Schulter und sah die hasserfüllten Mienen der vier Jugendlichen. Mist, hatte sie so laut gesprochen? Um abzulenken, sagte sie: »Sehen wir uns morgen?«

      »Ja, der letzte Tag der Ferien.« Erik sah geknickt zu ihr hinunter. »Und dann gehts ab zur Schule.«

      »Total doof.« Melina zog eine Schnute.

      Ihr Inneres schlug einen Purzelbaum, als Erik sie anlächelte. »Wir sehen uns ja in den Herbstferien wieder.«

      Auf dem Marktplatz verabschiedeten sie sich. Melina schlug ihren Heimweg ein und dachte an die Begegnung mit den vier Jungen. Sie konnte diese Clique nicht leiden. Zwei von ihnen gingen in ihre Klasse. Sie waren beide im letzten Jahr sitzen geblieben und taten auch jetzt nicht allzu viel, um ihre Einstellung zu ändern. Die beiden anderen waren zwei Jahre älter und volljährig. Sie gingen weder zur Schule noch arbeiteten sie.

      Dagegen waren die zwei Brüder total anders. Als sie Melina erzählt hatten, dass sie insgesamt vier Kinder waren, war sie beeindruckt gewesen. Sie war Einzelkind. Manchmal furchtbar langweilig.

      Zusammen mit Tammy, ihrer Freundin aus Kindertagen, waren die beiden ihre besten Freunde. Melina lächelte, als sie die Tür aufschloss und die erleuchtete Wohnung betrat. Wenigstens sah sie Erik und Daniel in den nächsten Ferien wieder.

      Wie sie sich täuschte.

      Friedlos

       »Nächster Halt: Schäferhof – Wiembachtal.«

      Melina atmete tief durch. Der Zug ließ den Tunnel hinter sich und sie sah die Felder und Wege, die ihr so vertraut vorkamen. Schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie diese Umgebung vermisste. Und doch spürte sie, wie eine unsichtbare Macht ihre Brust zusammendrückte, als sie dem Bahnhof näherkam. Die Bremsen des Zuges quietschten auf und sie verloren an Geschwindigkeit.

      In der nächsten Kurve erhoben sich vor dem Fenster die ersten Scheunen, gefolgt von Wohnhäusern und dem alten Schulgebäude. Der Kirchturm war oberhalb der Dächer zu erkennen. Weit hinten ragten die Hochhäuser der Innenstadt und die hohen Schornsteine des Industriegebiets Schäferhofs auf.

      Der Zug fuhr in den Bahnhof ein und Melina stand auf. Sie schnallte sich ihren Rucksack auf den Rücken und ergriff den Henkel ihres kleinen Rollkoffers. Sie verließ den Waggon und betrat nach vier Jahren das erste Mal das raue Pflaster ihrer Heimatstadt.

      Die Sonne hatte sich einen Weg durch die Wolken erkämpft. Auch wenn sie sich bereits dem Horizont näherte, erwärmte sie Melinas Haut.

      »Melina!«

      Bevor sie sich versah, fiel ihr Tammy um den Hals. Beinahe riss es die beiden jungen Frauen von den Füßen.

      »Es ist so schön, dich wiederzusehen.« Tammy drückte sie resolut und ließ sie dann los.

      Melina betrachtete ihre Freundin lächelnd. Die blonden Haare trug Tammy kurz und strubbelig. Sie war braun gebrannt und ihre Augen strahlten. Freude pulsierte durch Melinas Adern und für einen Moment vergaß sie ihre Sorgen und Ängste. »Du hast dich kaum verändert in den letzten Jahren.«

      »Du dich schon, meine Liebe. Aber nur zum Positiven.« Ein schelmisches Grinsen huschte über Tammys Gesicht und bevor Melina es verhindern konnte, wurde sie erneut umarmt.

      Zusammen ließen sie den Bahnhof hinter sich zurück und schlugen den Weg durch eine ruhige Gasse ein, die zum Marktplatz führte. Melina sah sich um. Alles war ihr so vertraut, als hätte sie nicht die letzte Zeit in Köln verbracht. Gleichwohl brachten die Erinnerungen Bilder mit sich, an die Melina nicht denken wollte.

      Um sich abzulenken, wandte sie sich an Tammy. »Gibts noch den Eisladen?«

      »Klar. Da können wir direkt morgen hin, wenn du magst.«

      Ein Stocken in ihrer Stimme brachte Melina dazu, ihre Beobachtungen zu unterbrechen und Tammy zu betrachten. Die löste ihren Blick gerade von Melinas Arm.

      Unwillkürlich zuckte Melinas Hand zu ihrem verdeckten Unterarm.

      In Tammys Stimme schwang Sorge mit. »Du trägst immer noch eine Stulpe darüber?«

      »Ja. Ich will nicht, dass man es sieht.«

      Tammy nickte, doch man konnte deutlich ihre Zerrissenheit erkennen.

      »Ich bin nicht so selbstbewusst wie du.« Melina versuchte, gegen den Kloß anzukämpfen, der sich unvermittelt in ihrem Hals befand. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Wie sie das hasste! Warum musste sie immer wieder daran erinnert werden? Krampfhaft zwinkerte sie und schaffte es, die Tränen wegzublinzeln.

      Da sie ihren Stimmungswandel bemerkt hatte, lenkte Tammy vom Thema ab. »Also, was machen wir die nächsten Wochen oder Monate über?«

      Über die Wortwahl musste Melina lächeln, wenn auch etwas gequält. »Du weißt, dass ich nicht sagen kann, wann ich wieder weg bin, oder?«

      »Klar.« Tammy beendete ihr Nachdenken. Sie verlieh ihrer Stimme einen unbeschwerten Klang. »Aber bis dahin können wir uns schließlich eine schöne Zeit machen.«

      Dem stimmte Melina zu. »Ja, das machen wir. Ich möchte an den See, und Eis essen. Und wir müssen unbedingt ins Kino, ich möchte noch einmal Harry Potter 1 gucken.«

      »Der lief doch schon letztes Jahr.«

      »Sie zeigen ihn im kleinen Kino hier noch einmal.«

      »Bist du immer noch so verrückt nach dem ganzen Fantasy-Gedöns?« Tammy grinste.

      Darauf ging Melina nicht ein, wusste sie doch, dass Tammy ihrem Bücher-Faible nicht allzu viel abgewinnen konnte. »Wie geht’s Mike?«

      Da die Freundschaft zwischen den beiden in den letzten Jahren über Briefe stattgefunden hatte, kannte sie Tammys Freund nur von Berichten. Die beiden waren bereits zwei Jahre zusammen.

      »Gut. Er muss heute Nachmittag zu seiner Oma und