Charles Dickens

Die Abenteuer Tom Sawyers


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— das schickt sich für den großen Haufen — sondern saßen zusammen auf einem Hügel und leiteten die Operationen durch Befehle an die Unterführer. Toms Armee gewann einen großen Sieg — nach einer langen, hartnäckigen Schlacht. Dann wurden die Toten beerdigt, die Gefangenen ausgetauscht, die Bestimmungen für das nächste Zusammentreffen getroffen und der Tag dafür festgesetzt, worauf sich die Armeen in Kolonnen formierten und zurückmarschierten — Tom marschierte allein nach Haus.

      Als er an dem Hause des Jeff Thatcher vorbeikam, sah er im Garten ein unbekanntes Mädchen, ein liebliches, kleines, blauäugiges Geschöpf mit hellem, in zwei Zöpfen gebundenem Haar, weißem Sommerkleid und gestickten Höschen. Der ruhmreiche Held fiel, ohne einen Schuß getan zu haben. Eine gewisse Amy Lawrence war mit einem Schlage aus seinem Herzen verstoßen und ließ nicht einmal eine Erinnerung darin zurück. Er hatte sie bis zum Wahnsinn zu lieben geglaubt; seine Liebe war ihm als Anbetung erschienen; und nun zeigte es sich, daß es nur eine schwache, unbeständige Neigung gewesen sei. Er hatte durch Monate um sie geseufzt, sie hatte seine Liebe vor kaum einer Woche erst mit ihrer Gegenliebe belohnt; er war vor kurzen sieben Tagen noch der glücklichste und stolzeste Bursche der Welt gewesen, und jetzt, in einem Augenblick war sie gleich irgend einer beliebigen Fremden, der man flüchtig begegnet ist, aus seinem Herzen verschwunden.

      Er betrachtete diesen neuen Engel mit glänzenden Augen, bis er merkte, daß sie ihn entdeckt habe. Dann stellte er sich, als wisse er gar nichts von ihrer Anwesenheit, und begann dann, nach rechter Jungensmanier, sich zu spreizen, um ihre Bewunderung zu erregen. Diese Torheiten trieb er eine Weile, schielte dann hinüber und sah, daß das kleine Mädchen sich dem Hause zugewandt hatte. Tom kletterte auf den Zaun und balancierte oben herum, machte ein trübseliges Gesicht und hoffte, sie werde sich dadurch zu längerem Verweilen bewegen lassen. Sie blieb auch einen Augenblick stehen, dann ging sie weiter der Tür zu. Tom stieß einen tiefen Seufzer aus, als sie die Türschwelle betrat, aber seine Mienen hellten sich auf, leuchteten vor Vergnügen, denn sie hatte in dem Moment, ehe sie verschwand, ein Stiefmütterchcn über den Zaun geworfen. Tom rannte herzu und blieb dicht vor der Blume stehen, beschattete seine Augen und schaute die Straße hinunter, als hätte er dort etwas von größtem Interesse entdeckt. Dann nahm er einen Strohhalm auf und begann ihn auf der Nase zu balancieren, indem er den Kopf zurückwarf. So sich rechts und links drehend, kam er der Blume immer näher. Schließlich ruhte sein bloßer Fuß darauf, seine Zehen nahmen sie auf, und er hüpfte mit seinem Schatz davon und verschwand um die nächste Ecke. Aber nur für eine Minute — bis er die Blume unter seiner Jacke versteckt hatte, auf seinem Herzen oder auch auf dem Bauche, denn er war in der Anatomie nicht sehr bewandert und durchaus nicht kritisch. Dann kehrte er zurück, lungerte auf seinem Zaun herum und ließ seine Augen nach ihr herumspazieren, bis die Nacht anbrach; aber die Kleine ließ sich nicht wieder sehen. Tom tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie hinter irgend einem Fenster gestanden und von seinen Aufmerksamkeiten Notiz genommen habe. Endlich ging er nach Hause, den Kopf voll angenehmer Vorstellungen.

      Während des ganzen Abendessens war er so geistesabwesend, daß sich seine Tante wunderte, was in ihn gefahren sein könne. Er bekam wegen seiner Beschießung Sids Schelte und schien sich weiter gar nichts daraus zu machen.

      Er versuchte, seiner Tante vor der Nase Zucker zu stehlen und bekam was auf die Finger. Er sagte: „Tante, du schlägst Sid nie, wenn er so was macht!“

      „Na, Sid treibt‘s auch nicht so arg wie du. Du würdest den ganzen Tag im Zucker sein, wenn ich nicht aufpaßte.“

      Gleich darauf ging sie in die Küche, und Sid, auf seine Unverletzlichkeit pochend, griff nach der Zuckerdose, mit einer Selbstüberhebung gegen Tom, die diesem unerträglich dünkte. Aber Sids Finger glitten aus, und die Zuckerdose fiel auf den Boden und zerbrach. Tom war außer sich vor Vergnügen, so außer sich, daß er sogar seine Zunge im Zaume hielt und verstummte. Er nahm sich vor, kein Wort zu sagen, auch nicht, wenn seine Tante wieder hereinkomme — solange, bis sie frage, wer dieses Verbrechen begangen habe. Dann wollte er es sagen, und niemand auf der Welt würde so glücklich sein wie er, wenn dieser Musterknabe auch einmal was auf die Pfoten bekam. Er war so voll Erwartung, daß er sich kaum zurückhalten konnte, als die alte Dame dann kam und vor den Scherben stand und Zornesblitze über den Rand ihrer Brille schleuderte. Er sagte zu sich: Jetzt kommt‘s! Und im nächsten Augenblick zappelte er auf dem Fußboden! Eine drohende Hand schwebte über ihm, um ihn nochmals zu treffen; Tom brüllte: „Halt, halt, warum prügelst du mich? Sid hat sie zerbrochen!“

      Tante Polly hielt erschrocken inne, und Tom sah sofort, daß sich das Mitleid bei ihr zu regen begann. Aber sie sagte nur: „Auf! Ich denke, bei dir schadet kein Schlag. Du hast manches auf dem Kerbholz, wofür du keine Prügel bekommen hast.“

      Dann aber empfand sie doch Reue und hätte gerne etwas Liebevolles, Versöhnendes gesagt. Aber sie dachte, das könne als Zugeständnis ihres Unrechts gelten, und dadurch würde die Disziplin leiden. So schwieg sie und ging betrübten Herzens ihren Geschäften nach. Tom verkroch sich in einen Winkel und wühlte in seinen Leiden. Er wußte, daß seine Tante innerlich vor ihm auf den Knien lag, und er fühlte wilde Genugtuung bei diesem Gedanken. Er würde sich nichts merken lassen und „nicht dergleichen tun.“ Er wußte, daß liebevolle Blicke auf ihm ruhten, aber er spielte den Gleichgültigen. Er stellte sich vor, wie er krank oder tot daliege und seine Tante händeringend über ihm, um ein verzeihendes Wort bettelnd; aber er würde sich abwenden und sterben, ohne das Wort zu sagen. Was würde sie dann wohl empfinden? Dann wieder sah er sich, vom Fluß nach Hause getragen, tot, mit triefenden Haaren, steifen Gliedern und für immer erstarrtem Herzen. O, wie würde sie sich über ihn werfen, wie würden ihre Tränen fließen und wie würde sie zu Gott flehen, ihn ihr wiederzugeben, und sie würde ihn nie, nie wieder mißhandeln! Aber er würde kalt und blaß daliegen und sich nicht regen, ein kleiner Märtyrer, dessen Leiden für immer zu Ende sind. So schraubte er seine Gefühle durch eingebildetes Elend künstlich in die Höhe, daß er fast daran erstickt wäre — er war so leicht gerührt! Seine Augen schwammen in einem trüben Nebel, welcher zu Tränen wurde, sobald er blinzelte, und herabrann und von der Spitze seiner Nase troff. Und solche Wollust bereitete ihm sein Kummer, daß er sich nicht um die Welt von irgend jemand hätte trösten oder aufheitern lassen; er war viel zu zart für eine solche Berührung mit der Außenwelt. Und als seine Cousine Mary nach einem eine ganze Woche langen Besuch auf dem Lande lustig und guter Dinge hereinhüpfte, sprang er auf und schlich in Einsamkeit und Kälte zu einer Tür hinaus, während sie Gesang und Sonnenschein zur anderen hereinbrachte. Er vermied die Orte, an denen sich seine Freunde herumzutreiben pflegten und suchte vielmehr trostlos-verlassene Gegenden, die mit seiner Stimmung mehr im Einklang wären.

      Ein Holzfloß auf dem Flusse lud ihn ein; er setzte sich ans äußerste Ende und versenkte sich in die traurige Eintönigkeit um ihn her und wünschte nichts anderes, als tot und ertrunken zu sein — aber ohne vorher einen häßlichen Todeskampf durchmachen zu müssen. Danach zog er seine Blume hervor. Sie war zerknittert und verwelkt und erhöhte noch das süße Gefühl der Selbstbemitleidung.

      Ob sie Mitleid mit ihm haben würde, wenn sie wüßte? Würde sie weinen und sich danach sehnen, die Arme um ihn zu schlingen und ihn wieder zu erwärmen? Oder würde sie sich gleich der übrigen Welt kalt abwenden? Dieses Bild schien ihm so rührend, daß er es sich immer und immer wieder ausmalte und ausschmückte, bis er es greifbar vor sich sah. Schließlich stand er seufzend auf und schlich in die Finsternis hinaus. Um halb zehn oder zehn Uhr gelangte er in die Straße, in welcher die angebetete Unbekannte wohnte. Er blieb einen Augenblick stehen; kein Ton traf sein lauschendes Ohr; aus einem Fenster des zweiten Stockes fiel ein schwacher Lichtschimmer. War dieser Raum durch ihre Anwesenheit geheiligt? Er erkletterte den Zaun und bahnte sich seinen eigenen Weg durch das Buschwerk, bis er unter dem Fenster stand. Lange und aufmerksam spähte er hinauf. Dann legte er sich auf die Erde nieder, die Hände über der Brust gefaltet und in den Händen seine arme, verwelkte Blume. Und so wollte er sterben — draußen, in der kalten Welt, kein Dach über sich, ohne eine freundliche Hand, die ihm den Todesschweiß von der Stirn wischen würde, ohne ein mitleidiges Gesicht, das sich, wenn der Todeskampf kam, über ihn beugen würde — und würde sie wohl eine Träne weinen über seinen armen toten Leib, würde es ihr weh tun, ein blühendes, junges Leben so grausam geknickt,