Axel Dickschat

Es ist, wie es ist - ich bin, wie ich bin


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einmal mit einem sehr bekannten Fußchirurgen über das Thema unterhielt. Er sagte mir, dass kein Mensch genau beziehungsweise exakt so geht wie ein anderer. Die Sauerländer haben einen schönen erklärbaren Spruch dafür; sie sagen: „Der Bauer erkennt seine Schweine am Gang“.

      Bis zur Einschulung im Jahr 1966 war niemandem aufgefallen, dass ich keine guten Augen habe. Dies wäre heute natürlich undenkbar. Ich selber finde es zumindest recht erstaunlich. Bei der Untersuchung zur Einschulung gab es dann natürlich kein Entkommen mehr. Wobei, ganz so einfach war es dann doch nicht. Ich konnte also zunächst einmal bei der augenärztlichen Untersuchung die Bilder nicht erkennen, die man mir in fünf Metern Entfernung zeigte. Demnach kam die Fachkraft sehr schnell zu dem präzisen Urteil, dass ich wohl schlecht sehen kann. Allerdings, da meine Augen vollkommen gesund und unauffällig waren, war es damals fast unmöglich, die Ursache festzustellen. Man schlussfolgerte dann messerscharf, dass wohl eine geistige, alternativ psychische Erkrankung die Ursache sei, oder ganz einfach: „Der Junge will einfach nicht!“

      Wie man sich an dieser Stelle unschwer denken kann, begann eine Odyssee von Arztbesuchen.

      Nur noch einmal kurz zur Erinnerung. Wir befinden uns gerade im Jahr 1966, im sauerländischen Hemer und kein eigenes Auto – das kam erst später. Sollte ein vergleichbarer Fall heute vorliegen und man lebt zumindest in einer mittelgroßen Stadt, dann geht man in ein Ärztehaus, fängt in der ersten Etage beim Internisten an, endet nach einer Woche in der fünften beim Neurologen und man weiß zumindest ansatzweise, welche Befunde vorliegen. Dies gestaltete sich damals etwas aufwendiger. Insgesamt hatte es fast ein halbes Jahr gedauert, bis ein Augenarzt der Städtischen Klinik in Dortmund eine Rückenmarkpunktion durchführte, um mir auf diesem Weg Gehirnwasser zu entnehmen und feststellte, dass mein Sehnerv verkrüppelt ist. Mit anderen Worten, es liegt eine beidseitige Optikusatrophie (Sehnervenschwund) vor – irreparabel. Bei dieser Gelegenheit stellte man nebenbei fest, dass mein fünf Jahre älterer Bruder die gleiche Behinderung hat – allerdings nur auf einem Auge; von daher war es bei ihm noch weniger aufgefallen. Spannend war zu dieser Zeit vor allem die Erkenntnis, dass es sich hier um eine Erbkrankheit handelt, die sich auf Jungen überträgt, von Kind zu Kind schlimmer wird, jedoch eben nur auf Jungen – nicht auf Mädchen, sie können es nur übertragen! Das heißt aber, so war damals die Erkenntnis, dass mein älterer Bruder die Behinderung auf einem Auge hatte, ich auf beiden und, würde nach mir noch ein Junge kommen, wäre er blind. Nun war meine Mutter zu dieser Zeit wieder schwanger und es erübrigt sich an dieser Stelle, darüber zu berichten, dass sie ein nervliches Wrack war. Als sie dann im Juli 1967 entbunden hatte und ein Mädchen das Resultat der neunmonatigen Schwangerschaft war, wären meine Eltern vermutlich persönlich zum „lieben Gott“ gelaufen, wenn sie gewusst hätten, wo man ihn findet.

      Unabhängig davon, dass zu diesem Zeitpunkt niemand wusste, was ich denn nun genau hatte, standen zumindest zwei Dinge relativ fest: erstens, der Axel muss in die Schule und zweitens, er kann nicht gut sehen! Demnach war klar, ich sollte in eine Sonderschule für Sehbehinderte eingeschult werden. Dies kam für meine Eltern aus zweierlei Gründen nicht in Frage: 1.) in eine „Sonderschule“ schon mal gar nicht, und 2.) die nächste Sehbehindertenschule war in Dortmund. Besonders kurios an dieser Situation war, dass wir bis 1964 in der Dortmunder Innenstadt wohnten und zwar genau 100 Meter neben dieser Schule. Ich hätte, wären wir damals in Dortmund geblieben, mehr oder weniger nur über den Zaun springen müssen und schon wäre ich auf dem Schulhof gewesen.

      Neben der besonderen Situation der Schwangerschaft machten sich meine Eltern natürlich zusätzlich wahnsinnige Vorwürfe, dass sie zwei Jahre zuvor von Dortmund nach Hemer gezogen waren. Aber wie heißt es immer so schön: „Wenn man aus dem Rathaus kommt, ist man immer schlauer.“

      Also, die Frage, ob ich von Hemer jeden Tag mit einem Schulbus nach Dortmund fahre, stellte sich für meine Eltern zur damaligen Zeit gar nicht. Es war klar, dass ich zunächst in eine Regelschule eingeschult werde.

      Bis zur dritten Klasse klappte dies auch – relativ – gut. Wir arbeiteten zu Anfang erst einmal mit den Fibel-Büchern und auf den Tafeln wurde so großgeschrieben, das hätte man auch von der anderen Straßenseite sehen können. Ich saß natürlich immer in der ersten Reihe und mit der Stab-Lupe meiner Großmutter ging es zu Anfang ganz gut. Dies änderte sich dann ab der vierten Klasse, als die „Normalschrift“ eingeführt wurde und mein damaliger Klassenlehrer (den Namen sage ich hier besser nicht – wobei ich ihn nicht vergessen werde) - der Meinung war, dass ich eh nur simuliere, weil man mir ja nichts ansah und mich im Rahmen der erzieherischen Maßnahme in die letzte Reihe setzte. Dies hatte natürlich zur Folge, dass ich einen klassischen Absturz hinlegte, einmal sitzenblieb und die vierte Klasse noch einmal machen durfte mit dem Ergebnis, dass ich es beim zweiten Mal wieder nicht schaffte. Im Jahr 1971 stand dann fest, so geht es nicht weiter, Axel muss nach Dortmund zur Sehbehindertenschule – es gab jetzt keine Alternative mehr.

      Kurze Anmerkung für diejenigen, die zeitlich nachrechnen: zur damaligen Zeit gab es noch Kurzschuljahre. Das heißt, ein Schuljahr der ersten beiden Klassen dauerte ein halbes Jahr.

      Kapitel 2

       Wieso fallen eigentlich bestimmte Dinge nicht auf?

      Es mag sein, dass sich einige Leserinnen und Leser fragen, warum bestimmte Behinderungen, Handikaps und Krankheiten nicht auffallen.

      Wenn jemand motorisch eingeschränkt ist, also in einem Rollstuhl sitzt oder nicht greifen kann, dann ist die Sachlage relativ klar. Bis auf die engsten Angehörigen weiß zwar von außen niemand, welche Behinderung die Person hat. Eines steht aber relativ fest, die Person kann nicht gehen bzw. nicht greifen. Also ist die Umwelt aufmerksam und kann Hilfe anbieten, wenn sie es möchte.

      Bei sensorisch eingeschränkten Menschen ist es anders: sie fallen erst einmal nicht auf – sie müssen sich, so wie ich, jedes Mal und bei allen möglichen Gelegenheiten „outen“.

      Wenn ich beispielsweise in ein Hotel einchecke, dann legt man mir zunächst einen Meldebogen vor, den ich auszufüllen habe. An dieser Stelle sollten Sie einmal die Rezeptionistin beobachten, wenn ich in dem Feld „Post-leitzahl“ mein Geburtsdatum und in dem Feld „Name“ meine Straße eintrage, weil ich die Felder in dem Formular nicht lesen kann. In diesem Moment kann man in ihrem Gesicht ablesen: oh je … was haben wir denn jetzt für einen Gast!?

      Wir alle unterliegen bestimmten Normen und Regeln, was das Aussehen, die Verhaltensweise und die sogenannte soziale Kompetenz, also den Umgang mit Mitmenschen, angeht. Wer auch immer diese Regeln festgelegt hat, feststeht: es gibt zwar eine gewisse Toleranz, wird diese jedoch überschritten, stimmt etwas mit dieser Person nicht, und man wird automatisch in eine bestimmte Schublade gesteckt. Hier möchte niemand von uns sein und jeder versucht, alles zu tun, um es zu vermeiden. Also entwickelt jeder, der nicht in dieses Schema beziehungsweise Raster passt, einen gewissen Mechanismus, um sich davor zu schützen.

      Vor wenigen Jahren hatte ich die große Freude, eine wundervolle Frau kennenzulernen, die in der Zwischenzeit die 70er-Grenze überschritten hat. Auch wenn wir uns heute – leider – nur sehr selten sehen, so darf ich sie doch als „Freundin“ bezeichnen. Zu ihrer aktiven Zeit war sie Konrektorin einer Schule für geistig behinderte Kinder. Heute heißt es wohl korrekterweise „kognitiv eingeschränkte Schüler“. Meine Freundin trägt zwei Hörgeräte, weil sie beidseitig hörbehindert ist. Natürlich habe ich sie gefragt, wie das möglich ist. Soweit ich informiert bin, muss man, um Lehrerin werden zu wollen, vorher studiert haben. Wie geht das, wenn man nicht gut hören kann?

      Sie erzählte mir, dass in ihrer gesamten Schulzeit die Hörbehinderung nicht erkannt worden war. In der Volksschule hatte sie sich immer so gesetzt, dass sie den Lehrern von den Lippen ablesen konnte. Drehten sie sich um, weil beispielsweise etwas an der Tafel geschrieben wurde, hatte sie sich die Inhalte selber zusammengelegt. Das passte natürlich nicht immer. Aber bis zu diesem Zeitpunkt war es in Ordnung. Als sie dann in die weiterführende Schule kam und die Fächer Englisch und Französisch dazukamen, ging es nicht mehr weiter mit dieser Methode, weil nun das Mundbild nicht mehr mit den Worten übereinstimmte

      An dieser Stelle ist sicher