Patricia Weiss

Zweiundsiebzig


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      Durchs Fenster sahen sie, dass ein Geländewagen vorfuhr. Fünf Männer mit Bärten, grün-grauen Kampfanzügen und Gewehren im Anschlag sprangen vom Wagen und schwärmten in verschiedene Richtungen aus. Einer lief auf die offene Haustür zu, dann stand er vor ihnen. Im gleißenden Gegenlicht der Sonne zeichneten sich nur seine Silhouette und das Gewehr ab. Erst als er zwei Schritte in den Raum hinein machte, waren harte Gesichtszüge und eine Sonnenbrille zu erkennen. Mit der entsicherten Waffe und scharfen Worten, die sie nicht verstand, scheuchte er sie aus dem Haus.

      Mutter hatte die Arme schützend um sie und die zwei Schwestern gelegt, Vater hatte den Jüngsten hochgenommen. Der ältere Bruder ging gesenkten Hauptes zwischen ihnen und versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen.

      Hinter dem Jeep hatte ein Transporter mit offener Ladefläche gehalten. Einer der Bewaffneten zerrte ein Mädchen am Arm zu dem Fahrzeug und stieß es grob in den Rücken. Es stürzte vorwärts, konnte sich am Laster abfangen und kletterte ungeschickt hinauf. Drei weinende Mädchen knieten bereits dort und bettelten um Gnade oder schrien nach ihren Müttern. Die Familienangehörigen wurden weggezerrt.

      Der Lärm war unbeschreiblich.

      Der Mann griff ihr grob unter das Kinn, riss ihren Kopf hoch, dann zerrte er sie am Arm mit sich. Tief in ihrer Haut spürte sie die Fingernägel ihrer Mutter, die sie nicht loslassen wollte, doch es gab kein Entkommen. Er schleuderte sie gegen den Laster, dann krachte der Gewehrkolben in ihren Rücken. Sie schrie auf vor Schmerz und zog sich mit letzter Kraft auf die Ladefläche.

      Angstvoll sah sie zu ihrer Familie. Der Vater hielt mit dem einen Arm den kleinen Sohn umklammert, mit dem anderen gestikulierte er bittend zu den Männern. Ihre Mutter weinte, flehte, schrie. Sie konnte sie in dem Lärm nicht heraushören, aber sie konnte es sehen. Der Mann ging zurück und wollte die Schwestern begutachten, aber die Mutter lies es nicht zu. Sie drehte sich mit den Mädchen im Arm zu Seite, wollte sie fortzerren.

      Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, hob der Mann sein Gewehr und schoss ihr in den Kopf.

      Die Mutter sackte zusammen, begrub die beiden Töchter unter sich. Ihr Blut mischte sich mit dem Staub der Straße zu einem dicken, rot-klebrigen Brei. Hilflos und schreiend versuchten die Mädchen, sich zu befreien, unter ihr hervorzukriechen. Der Vater rührte sich nicht. Er hielt den kleinen Bruder so fest im Griff, dass dieser kaum atmen konnte. Ohne nachzudenken, warf sie sich gegen die Seitenstreben des Transporters. In ihrem Kopf gab es nur maßloses Entsetzen und den unbezwingbaren Drang, die Mutter zu retten, die Schwestern.

      Wie aus dem Nichts traf ein Schlag ihren Kopf. Sterne zerplatzten wie Feuerwerk vor ihren Augen.

      Dann wurde es schwarz.

      Das Erste, was sie wahrnahm, war ein Rütteln, das durch den ganzen Körper ging. Und ihren Kopf, der bei jedem Stoß schmerzte. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Es war stockdunkel.

      Wo war sie?

      Nur langsam wurde ihr bewusst, dass sie über Land fuhr, dass es der Sternenhimmel war, den sie über sich sah, und dass es menschliche Leiber waren, gegen die sie immer wieder geschleudert wurde. Schemenhaft sah sie Gestalten um sich herum sitzen. Frauen, Mädchen. Bestimmt zwanzig. Sie waren zusammengepfercht wie Hühner in einem Käfig. Die Köpfe hielten sie gesenkt, bei manchen zuckten die Schultern vom Weinen. Oder war es die unbefestigte Straße, die ihre Körper erschütterte? Vorsichtig tastete sie ihren Hinterkopf ab, fühlte eine dicke, pochende Beule, Haarsträhnen klebten in der verkrusteten Wunde. Der Fahrtwind der kalten Nacht und der Gedanke an das Schicksal ihrer Familie trieben ihr die Tränen in die Augen. Sie meinte, den Geruch von Fäkalien wahrzunehmen. Von wem er kam, konnte sie nicht ausmachen.

      Vielleicht von ihr selbst.

      Niemand sprach ein Wort. Sie hätte gerne Fragen gestellt. Irgendwelche. Um sich zu orientieren. Um zu hören, dass alles gut war. Aber ihr Gehirn schmerzte, war nicht in der Lage, sinnvolle Sätze zu bilden, und ihr Mund blieb stumm.

      Sie fuhren durch die Nacht über die holperige Piste. Wie lange waren sie unterwegs? Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Stunden oder Minuten mischten sich mit Schmerzen und Orientierungslosigkeit. Erst als am Horizont das rot-warme Glühen des Sonnenaufgangs sichtbar wurde, kam ein Funken Lebensenergie zurück in ihren Körper. Sie wollte nur noch ankommen. Irgendwo. Nichts konnte schlimmer sein, als diese Ruckelei in der bedrängenden Enge mit den anderen Mädchen.

      Doch sie irrte sich.

      2

       Heute, Nacht von Freitag auf Samstag,

       Rheinallee, Bad Godesberg

      Die Bushaltestelle war beleuchtet, eine Insel aus Licht in der Dunkelheit.

      Mit unsicheren Beinen kletterten und taumelten sie aus dem Bus. Zum Glück hatte der Busfahrer sie mitgenommen, obwohl sie ziemlich getankt hatten. Anisha wartete, bis alle sicheren Boden unter den Füßen hatten, und stieg als Letzte aus. Sie hatte nur ein paar Wodkas getrunken und war, verglichen mit den anderen, einigermaßen nüchtern.

      Quietschend schlossen sich die Türen hinter ihr, der Fahrer gab Gas. Die Gruppe hatte sich in der Rheinaue getroffen und den lauen Abend mit Trinken verbracht. Wie das alle bei schönem Wetter machten, die nicht alt genug waren, um in Bars abzuhängen. Eigentlich hätte Anisha längst zu Hause sein müssen, sie hatte nur Ausgang bis halb elf. Doch sie war so froh gewesen, dass die Gruppe sie mitgenommen hatte, dass sie ausgeharrt hatte.

      Schwarze Mädchen hatten es nicht leicht, Freunde zu finden.

      Pia-Jill hatte sie gefragt, ob sie mitkommen wollte. Ein paar Drinks kippen, bisschen Spaß haben, chillen mit ihr, ihrem Freund Göran und den Kumpels. Sie hatte begeistert zugesagt, obwohl sie Pia-Jill nicht sonderlich mochte. Sie hatte sie für verschlagen und ordinär gehalten. Und nach diesem Abend hatte sie die Gewissheit, dass der Eindruck stimmte. Aber Anisha war ihr trotzdem dankbar, dass sie dabei sein durfte.

      Pia Jill schwankte gefährlich auf den hohen Schuhen. Es war sowieso ein Abenteuer, dass sie so etwas trug. Sie war so rund und schwer, dass man fürchtete, die Absätze könnten jeden Augenblick wie Streichhölzer unter ihr zusammenknacken. Ihr schmächtiger Freund Göran zog eine Dose Bier, die er in den Bus geschmuggelt hatte, unter der Jacke hervor, öffnete sie zischend, nahm einen tiefen Schluck und stopfte sie zwischen Pia-Jills üppige Brüste in den Ausschnitt. Anisha schaute betreten weg.

      Das hatte er schon den ganzen Abend so gemacht.

      Pia-Jill als Bierhalter missbraucht.

      Sie trug einen Schlauch aus T-Shirt-Stoff, der von der kugeligen Figur so gespannt wurde, dass er oben gerade noch die Spitzen der Brüste bedeckte und unten kaum bis unter den voluminösen Hintern reichte. Jedes Mal, wenn er ihr eine Dose ins Dekolleté stopfte, rutschte das Kleid unter den Busen und musste mit viel Mühe wieder hochgezogen werden. Sah Pia-Jill nicht, wie er den Kumpels zuzwinkerte und die dreckig grinsten? Aber sie lachte nur und sagte ups. Bei Anisha hatten die Jungs es auch versucht, aber sie war so dünn, dass es ein aussichtsloses Unterfangen gewesen war. Oben herum war sie flach wie ein Brett, worüber sie zum ersten Mal im Leben froh war.

      Warum hatte Pia-Jill Göran als Freund? Es war klar, dass er sie nur für Sex gebrauchte. Fickmaschine nannte er sie und Pia-Jill schaute geschmeichelt, wenn er das sagte. Anisha verstand das nicht. Warum ließ sie sich so von ihm behandeln? War sie so happy, einen Freund zu haben, der sich in der Öffentlichkeit mit ihr zeigte, dass sie alles dafür akzeptierte? So hässlich, wie sie war, wollte sie ansonsten vermutlich keiner anrühren. Warum wusch sie die mausgrauen Haare nicht mal, anstatt sie in fettigen Strähnen um das teigige Gesicht ringeln zu lassen? Da halfen auch die langen, pinken Kunstfingernägel nicht und das zentimeterdick aufgespachtelte Make-up.

      Pia-Jill hatte ihr anvertraut, dass Göran Frauen liebte, bei denen es etwas zum Anfassen gab. Nicht solche dürren Bohnenstangen wie Anisha. Deshalb sollte sie es gar nicht erst bei ihm versuchen. Und schwarze Mädchen könne er sowieso nicht ab. Die seien hässlich und dumm. Als wenn sie jemals so verzweifelt wäre, sich Göran an den Hals zu werfen. Er machte zwar etwas