Marius Rehwalt

Der expressive Extremist


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zuckten nervös auf und ab. Innerlich wusste sie längst, dass es vorbei war, doch sie konnte es nicht wahrhaben, sie wollte nicht, dass der Weg hier sein Ende fand. Beatrice ließ sich müde auf das Sofa fallen und wartete ab, während Bernd schweigend und leicht zitternd vor sich hin starrte. Nach einer Weile packte Beatrice eines der roten Kissen und drückte es sich schwach ins Gesicht. Mit letzter Kraft schrie sie hinein. Zu wenig Hoffnung und zu wenig Geist zum Kämpfen war ihr geblieben.

      Es dauerte lange, ehe Bernd seine Worte wiederfand. Sein innerer Hass auf sich selbst schnürte ihm Sinn und Kehle zu. Doch dann sprach er kaum hörbar: »Du sitzt vor mir und ich spüre es, als wäre ich es selbst, der etwas über mich erfahren möchte. Das meiste, ›was ich denke und fühle‹ verstehe ich selbst nicht, höre immer nur kurze Gedanken oder werde wie von fremder Hand erdrückt.«

      Bernd begann sich zu krümmen, denn jedes Wort, das er zu seiner Frau sprach, lud noch eine Last mehr auf seine Schultern. Irgendetwas stimmte nicht. So vieles war falsch mit den Zweien, aber noch mehr mit ihm, mit Bernd. Er wusste es schon lange, am Ende zu lange, doch er konnte das Handtuch nicht werfen.

      ›Aufzugeben wäre aber manchmal ein optimistischerer Schritt in Richtung Glück, denn ab und an bedarf es einer Entscheidung, die einen vom Alten trennt, damit alles in einem bereit wird für den neuen Weg‹, dachte Beatrice.

      Oft wünschte sich Bernd, er könnte reden, hätte die Kraft und die Macht, all das, was sich in ihm verbarg, zu beschreiben und zu kommunizieren. Aber es mochte ihm nicht gelingen, und so wurde er stumm und sprach immer weniger. Er verfluchte seine Furcht vor der Wahrheit, doch konnte seine eigene nicht herauslassen, auch wenn er dadurch nur noch mehr Menschen verletzte. Er sehnte sich nach Ruhe und danach, dass Beatrice ihr Glück in Händen halten könnte. Mit einem schweren Seufzer sank Bernd in die andere Ecke des Sofas und machte einen runden, traurigen Buckel.

      »Ich kann dir nicht geben, was du brauchst!«, sagte Bernd zu ihr und nahm selbst eines der Kissen, um es sich auf den Schoss zu legen.

      »Wir wissen weder, was wir selbst brauchen, noch, was der andere möchte. Wir haben verloren, Bernd. Wir sind kläglich gescheitert, doch wollten es nicht zugeben.«

      Beatrice wurde immer ruhiger und fand ihre Fassung zurück, strich sich das nussbraune Haar hinters Ohr und blickte nach draußen.

      »Es ist wie ein Traum, aus dem niemand erwachen darf, in dem jeder für einen anderen lebt. Aber ich brauche das Leben ganz für mich. Du brauchst dein Leben für dich! Mir wird das alles zu fremd. Irgendwie scheint die Realität unsere gutgemeinten Wünsche zu überholen«, raunte Bernd fast nur zu sich selbst.

      Stille.

      »Ich habe Angst«, flüsterte Beatrice.

      »Ich auch«, erwiderte er und nahm sie weinend in den Arm.

      Einige Stunden lagen sie da, schwärmten von Erinnerungen, aber keiner wagte es, ihren Schlussstrich zu thematisieren. Immens waren die Gewichte der Gewohnheit, immer düsterer die Vorstellung von der ungewissen Zukunft.

      Bernd wollte aufstehen und gehen. Aber er traute sich nicht, es zu sagen.

      Beatrice wusste nicht, was sie tun sollte, konnte nicht loslassen, aber auch keinen Mut mehr fassen. So wagte sie es ebenso wenig, zu gehen und sich bewusst von der Vergangenheit abzulösen. Mit nichts als einer Handvoll Erinnerungen in den Träumen im Leben weiter voranzuschreiten. Lange schwiegen sie.

      Plötzlich übermannte es Bernd und er rannte durch die Wohnung, er schrie laut auf, kratzte sich an den Armen, riss sich die Haare heraus und schlug seinen Kopf gegen die Wände. Beatrice verlor die Fassung und rief den Notarzt.

      Viel zu lange dauerte es, bis der Krankenwagen kam. Der Arzt reichte Bernd eine kleine Tablette, die er abwesend schluckte, während das meiste Wasser an seinem Hals hinunterlief.

      Die beiden Helfer griffen Bernd unter den Armen und schleppten ihn in den Wagen, dann rauschten sie davon.

      Beatrice spürte, wie etwas Neues zu erblühen und zu wachsen begann. Es besaß etwas Individuelles und Wahrhaftes, tief aus ihrem Herzen heraus.

      Das Schandmaul, der Ausländer und die Glatze

      Markus steht im Empfangsbereich seines Hausarztes und wartet. Wann genau er einen Termin hat, weiß er nicht mehr. Darum ist er heute hier, um nachzufragen und sicher zu gehen, dass er ihn nicht doch schon verpasst hat.

      Vor Markus steht ein fremdländischer junger Mann. Es fällt ihm schwer, sich auszudrücken. Die Arzthelferin fragt, ob er den vereinbarten Termin wahrnehmen könne, und er haspelt nach Worten, um zu erklären, dass er an diesem Tag Schule habe. Das Wort ›Schule‹ ist auch das einzige, das ihm in diesem Gespräch so recht gelingen mag. Ob er sich auch gleich hinsetzen und warten könne, bis der Arzt Zeit habe, will die blonde Helferin wissen. Sie geht sehr liebevoll mit dem Jungen um, wiederholt ihre Fragen immer wieder, bleibt freundlich, scheint keinerlei Probleme damit zu haben, dass er nicht von hier ist und dass es ihm schwerfällt, sich zu verständigen.

      Während des Gesprächs sieht Markus plötzlich die Eingangstür aufschwingen. Im Eingang lugt ein Rollator hervor. Die schwere Holztür fällt zurück und treibt das Gefährt wieder nach draußen. Markus geht zur Tür und hält sie geöffnet, bis die ältere Dame über die kleine Schwelle eingetreten ist. Dann stellt er sich wieder an und wartet weiter.

      Der Dunkelhäutige und die Arzthelferin kommen zum Ende. Der Junge hat verstanden, lächelt sie dankend an und tritt hinüber ins Wartezimmer.

      Markus würde sich nicht als Nazi bezeichnen, trotzdem ist ihm unwohl. Denn dieser junge Mann ist nicht der einzige Fremde hier, noch zwei andere sitzen bereits im Wartebereich.

      ›Das war doch vor einem Jahr noch nicht so‹, denkt Markus bei sich und tritt an den Schalter.

      Die Begrüßungsfloskeln werden gewechselt, ehe Markus seine Situation erklärt: »Ich habe ein kleines Problem, denn ich kann meinen Zettel mit dem Termin nicht mehr finden. Mir war so, als wäre es der Siebte gewesen. Darum bin ich jetzt hier, in der Hoffnung, mich nicht vertan zu haben.«

      Die Helferin nimmt seine Krankenkarte und liest sie ein. Dann lächelt sie und antwortet: »Der Vierte wäre es gewesen. Hm ... schlecht. Naja, beides Zahlen mit einem Strich.«

      Beide schmunzeln, doch Markus ist das sehr unangenehm. Die Arzthelferin bleibt ruhig und schaut nach einem neuen Termin. Dann sieht sie Markus kurz zuvorkommend an und sagt ihm, er könne sich mit dazusetzen. Markus bedankt sich und nimmt Platz im Wartezimmer - am Fenster, in der hintersten Ecke.

      Er hat vergessen, ein Buch einzupacken. Die sozialen Medien vertreiben ihm nur wenige Minuten die Zeit und so beginnt er, die Leute um sich herum zu beobachten. Seine Augen treffen wieder auf den Fremden aus dem Empfangsbereich. Dieser isst gerade einen Apfel und Markus fragt sich: ›Geht er selbst einkaufen, damit er immer einen Notfall-Apfel hat? Wenn es doch einmal etwas länger dauert als geplant? Hat man ihm beigebracht, dass Äpfel gesund sind? Oder gibt es da so ein paar Öko-Frauen, die ihm jeden Tag ein Paket mit Nahrung zusammenstellen?‹

      Während seiner verschrobenen Fragen rollt langsam die ältere Frau herein. Sie schiebt sich vor einen Tisch in der Mitte des Zimmers, versucht irgendwie, sich hinzusetzen. Dabei fällt ihr ein Zettel vom Rollator. Sofort springt der Immigrant vom Stuhl, hebt ihr das Papier auf, justiert den Rollator etwas, damit die Dame sich besser auf ihren Stuhl begeben kann und setzt sich dann selbst wieder. Er strahlt eine tiefe Ruhe aus, eine zuvorkommende Freundlichkeit und hält Blickkontakt mit der Älteren. Beobachtet, ob er noch einmal helfen kann. Erst nach einer Weile, als sie beginnt, ein Formular auszufüllen, konzentriert er sich wieder mehr auf seinen Apfel, vielleicht auch auf seine eigenen Gedanken.

      Eine Dame mit kurz geschnittenen, lila bis schwarzen Haaren betritt das Zimmer. Sofort beginnt sie, lautstark auf ihre Sitznachbarin einzureden. Dann steht sie auf, und ohne alle anderen Wartenden zu fragen, öffnet sie ein Fenster. Kaum hat sie sich wieder gesetzt, fährt sie damit fort, irgendwelche belanglose und gänzlich alltägliche Dinge von sich zu geben.

      Es dauert nicht lange und Markus entlarvt sie als Schandmaul.