Selma Lagerlöf

Jerusalem


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fahren müssen. Und sie hätte neben ihm wie eine Braut geschmückt sitzen müssen und unter der Brautkrone lächeln sollen.«

      Das Tor tat sich mehrmals auf; es kam ein Pfarrer, und es kamen die Frau und die Mägde des Gefängnisdirektors und gingen in die Stadt hinab. Endlich kam Brita. Als das Tor aufging, stand Ingmar das Herz still. »Jetzt kommt sie,« dachte er. Seine Augenlider fielen zu, er war wie gelähmt und rührte sich nicht. Als er Mut gefaßt hatte und aufsah, stand sie vor dem Tor auf der Treppe.

      Er sah sie dort einen Augenblick stehen bleiben. Sie schob das Kopftuch zurück und sah mit klaren Augen auf die Landschaft hinaus. Das Gefängnis lag hoch, und über die Stadt und die großen Wälder hinweg konnte sie bis an die Berge ihrer Heimat sehen.

      Nun sah Ingmar, wie sie gleichsam von einer unsichtbaren Macht geschüttelt und gebeugt wurde. Sie hielt die Hände vor das Gesicht und setzte sich auf die Steintreppe nieder. Er konnte sie bis zu der Stelle, wo er stand, schluchzen hören.

      Da ging er über den Kiesplatz, stellte sich neben sie und wartete. Sie weinte so heftig, daß sie nichts hörte; er mußte lange dastehen. »Du mußt nicht so weinen, Brita,« sagte er schließlich. Sie sah auf. »Ach, Gott im Himmel, bist du hier?« sagte sie. Und im selben Augenblick stand alles das, was sie ihm angetan hatte, deutlich vor ihr, und auch das, was es ihn gekostet haben mußte, hierher zu kommen. Sie stieß einen lauten Freudenschrei aus, warf sich ihm um den Hals und schluchzte von neuem.

      »Ach, wie ich mich danach gesehnt habe, daß du hier sein solltest,« sagte sie. Ingmars Herz begann zu pochen, weil sie sich so zu ihm freute. »Was sagst du, Brita, hast du dich gesehnt?« sagte er und wurde gerührt. – »Ich mußte dich doch um Verzeihung bitten.«

      Ingmar richtete sich in seiner ganzen Höhe auf und wurde so kalt wie ein Steinbild. »Dazu ist immer noch Zeit,« sagte er, »ich meine, wir sollten nicht länger hier stehen bleiben.«

      »Nein, das ist ja kein Ort zum Stehenbleiben,« sagte sie demütig. – »Ich bin bei Kaufmann Löfberg eingekehrt,« sagte Ingmar, wahrend sie den Weg entlang gingen. – »Ja, da habe ich auch meine Kiste stehen.« – »Ich habe sie da gesehen,« sagte Ingmar, »sie ist zu groß, um hinten auf der Karre zu stehen, wir müssen sie da lassen, bis wir sie abholen lassen können.« Brita blieb stehen und sah zu Ingmar auf. Es war das erstemal, daß er erwähnte, daß er sie mit nach Hause nehmen wollte. »Ich habe heute einen Brief von Vater bekommen; er sagte, du meintest auch, daß ich nach Amerika reisen sollte.« – »Ich dachte, es könnte nicht schaden, wenn du die Auswahl hättest. Es war ja nicht sicher, daß du mit mir nach Hause kommen wolltest.« – Sie beachtete wohl, daß er nicht sagte, daß er es wünsche, aber das konnte wohl auch daher kommen, daß er sich ihr nicht aufzwingen wollte. Sie wurde sehr unschlüssig. Es war ja nicht beneidenswert, eine wie sie nach dem Ingmarshofe heimzubringen. – »Sag' ihm, daß du nach Amerika reist, das ist das einzige, was du tun kannst,« sagte sie zu sich selbst. »Sag' ihm das, sag' ihm das,« spornte sie sich an. Während sie so dachte, hörte sie jemand sagen: »Ich fürchte, ich bin nicht stark genug, um nach Amerika zu reisen; sie sagen, man muß da drüben so hart arbeiten.« – »Es kam mir vor, als sei es jemand anderes, der antwortete und nicht sie selbst.« – »Ja, so sagt man,« sagte Ingmar leise. – Sie schämte sich über sich selbst, dachte daran, daß sie noch heute morgen zu dem Pfarrer gesagt hatte, sie ginge als ein neuer und besserer Mensch in die Welt hinaus. Sie war unzufrieden mit sich selbst, ging lange schweigend einher und dachte daran, wie sie es anstellen sollte, ihr Wort zurückzunehmen. Aber sobald sie etwas derartiges sagen wollte, hielt der Gedanke sie zurück, daß, falls er sie noch liebe, es schwarzer Undank sein würde, ihn von sich zu weisen. »Könnte ich nur seine Gedanken lesen,« dachte sie.

      Da sah Ingmar, daß sie stehen blieb und sich gegen eine Mauer lehnte. »Ich werde ganz verwirrt von all dem Geräusch und den vielen Menschen.« Er reichte ihr eine Hand und sie nahm sie, und Hand in Hand gingen sie nun die Straße hinab. »Jetzt sehen wir aus wie ein Brautpaar,« dachte Ingmar. Aber während der ganzen Zeit grübelte er darüber nach, wie es gehen würde, wenn er nach Hause käme, wie er mit seiner Mutter und allen den anderen zurechtkommen sollte.

      Als sie zu dem Kaufmann kamen, sagte Ingmar, sein Pferd sei ausgeruht, falls sie nichts dagegen habe, könnten sie die ersten Wegestrecken noch heute zurücklegen. Da dachte sie: »Jetzt ist der Augenblick gekommen, zu sagen, daß du nicht willst. Danke ihm jetzt und sage, daß du nicht willst.« Sie stand da und flehte zu Gott, daß sie sich doch klar darüber werden möge, ob er nur aus Barmherzigkeit gekommen sei. Währenddes zog Ingmar den Wagen aus dem Schuppen heraus. Er war frisch gestrichen, das Spritzleder glänzte, und die Sitze hatten einen neuen Bezug bekommen. Vorn am Wagenleder steckte ein kleiner, halbverwelkter Strauß aus Feldblumen. Als sie den sah, blieb sie stehen und besann sich, und währenddes ging Ingmar in den Stall, schirrte das Pferd an und zog es heraus. Da, als sie ein ebensolches kleines halbverwelktes Bukett an dem Zaumwerk sah, fing sie wieder an zu glauben, daß er sie wirklich lieb habe und dachte, es sei am besten zu schweigen. Sonst würde er vielleicht finden, daß sie undankbar sei und nicht verstünde, wie groß das Anerbieten war, das er ihr machte.

      Sie fuhren des Weges dahin, und um das Schweigen zu unterbrechen, fing sie an, nach diesem und jenem daheim zu fragen. Bei jeder Frage erinnerte sie ihn an irgend einen, vor dessen Urteil er sich fürchtete. »Wie der und der sich wundern wird,« dachte er, »und wie der und der sich lustig über mich machen wird.« Seine Antworten waren einsilbig, und wieder und wieder meinte sie, sie müsse ihn bitten, umzukehren. Er will mich nicht haben, er hat mich nicht lieb, er tut es nur aus Barmherzigkeit.

      Bald hörte sie auf zu fragen; in tiefem Schweigen fuhren sie Meile auf Meile. Aber als sie in ein Gehöft kamen, stand da Kaffee mit frischem Gebäck für sie bereit, und auf dem Kaffeetisch lagen gleichfalls Blumen. Sie begriff, daß er es bestellt haben müßte, als er am gestrigen Tage vorbeigefahren war. War auch das nichts weiter als Güte und Barmherzigkeit? War er gestern froh gewesen? War es ihm erst heute leid geworden, nachdem er sie aus dem Gefängnis hatte kommen sehen? Aber morgen, wenn sie es vergessen hatte, würde schon alles wieder gut werden.

      Brita war weich geworden vor Reue und Demut. Sie wollte ihm keinen Kummer bereiten. Vielleicht, daß er doch wirklich – –

      Die Nacht über blieben sie in einem Gasthof, brachen aber frühzeitig auf und waren nun so weit gekommen, daß sie um zehn Uhr ihre eigene Kirche sehen konnten. Als sie vorüberfuhren, wimmelte es auf dem Kirchweg von Leuten, und die Glocken läuteten. »Lieber Gott, es ist Sonntag,« sagte Brita und faltete die Hände unwillkürlich. Sie vergaß alles andere über dem Gedanken, daß sie zur Kirche fahren und Gott danken wolle. Das neue Leben, das sie jetzt leben sollte, wollte sie mit einem Gottesdienst in der alten Kirche einweihen.

      »Ich möchte gern in die Kirche,« sagte sie zu Ingmar. In diesem Augenblick dachte sie gar nicht daran, daß es schwer für ihn sein müsse, sich dort blicken zu lassen. Sie war voller Andacht und Dankbarkeit. Ingmar war kurz davor, geradeswegs nein zu sagen. Er meinte, er habe nicht den Mut, den scharfen Blicken und den geschwätzigen Zungen zu begegnen. »Aber einmal muß es ja doch sein,« dachte er und bog in den Kirchenweg ein. »Es wird gleich schlimm, wann es auch sein mag.«

      Als sie den Kirchenhügel hinauffuhren, saßen auf der Steinmauer eine Menge Menschen und warteten darauf, daß der Gottesdienst beginnen sollte, und sie sahen alle die an, die kamen. Als sie Ingmar und Brita daherfahren sahen, fingen sie an zu flüstern und einer den anderen anzustoßen und auf sie zu zeigen. Ingmar sah Brita an; sie saß mit gefalteten Händen da und sah aus, als wisse sie nicht, wo sie war. Sie sah die Menschen nicht, aber Ingmar sah sie um so besser; einige kamen hinter dem Wagen dreingelaufen. Er wunderte sich nicht darüber, daß sie liefen und daß sie guckten. Sie wußten wohl nicht, ob sie recht gesehen hatten. Sie konnten sich natürlich nicht denken, daß er mit der, die ihr Kind erstickt hatte, zum Gotteshause gefahren käme. »Das ist zu viel,« dachte er, »ich halte es nicht aus.«

      »Ich meine, es wird am besten sein, wenn du gleich in die Kirche hineingehst, Brita,« sagte er, als er ihr vom Wagen herabhalf. – »Ja,« sagte sie, sie wollte nur zur Kirche; sie war nicht gekommen, um Leute zu treffen. Ingmar ließ sich Zeit, das Pferd abzuschirren und zu füttern. Viele Blicke waren auf Ingmar gerichtet,