Auf den Brücken
Die arme Jungfrau, die von dem Blutbade verschont geblieben war, hatte Torarin mit nach Marstrand genommen. Er hatte ein so großes Mitleid für sie gefaßt, daß er ihr angeboten hatte, in seiner engen Hütte zu wohnen und Speise und Trank mit ihm und seiner Mutter zu teilen. Dies ist das einzige, was ich für Herrn Arne tun kann, dachte Torarin, zum Lohne für alle die vielen Male, wo er mir meine Fische abgekauft hat und mich an seinem Tisch essen ließ.
So arm und gering ich auch bin, dachte Torarin, ist es doch besser für die Jungfrau, daß sie mit mir in die Stadt kommt, als wenn sie hier bei den Bauern bleibt. In Marstrand gibt es viele reiche Bürger, und die Jungfrau wird vielleicht bei einem von ihnen einen Dienst finden und so ihr gutes Auskommen haben.
In den ersten Tagen, nachdem die Jungfrau zur Stadt gekommen war, saß sie da und weinte vom Morgen bis zum Abend. Sie jammerte über Herrn Arne und sein Haus, und sie klagte, weil sie alle verloren hatte, die ihr nahe standen. Am meisten jedoch wehklagte sie über ihre Milchschwester und sagte, sie wünschte, sie hätte sich nicht an der Mauer versteckt, so daß sie ihr in den Tod hätte folgen können.
Torarins Mutter sagte nichts dazu, solange der Sohn daheim war. Aber als er wieder seine Fahrt angetreten hatte, sagte sie eines Morgens zu der Jungfrau:
»Ich bin nicht so reich, Elsalill, daß ich dir Nahrung und Kleidung geben kann, damit du hier mit den Händen im Schoße sitzest und deinen Kummer hütest. Komm du mit mir hinunter auf die Brücken und lerne Fische reinigen!«
Da ging Elsalill mit ihr hinunter auf die Brücken und stand den ganzen Tag unter den anderen Fischerinnen und arbeitete.
Aber die meisten Frauen auf den Brücken waren jung und frohgemut. Sie begannen mit Elsalill zu sprechen und fragten sie, warum sie so traurig und stumm sei.
Da begann Elsalill ihnen zu erzählen, was für ein Abenteuer ihr vor nicht mehr als drei Nächten widerfahren war. Sie erzählte von den drei Räubern, die durch den Windfang des Daches in die Stube gedrungen waren und alle gemordet hatten, die ihr im Leben nahestanden.
Als Elsalill dies erzählte, fiel ein schwarzer Schatten auf den Tisch, an dem sie stand und arbeitete. Und als sie aufsah, standen vor ihr drei vornehme Herren, die breite Hüte mit großen Federn trugen und Samtkleider mit großen Puffen, die mit Seide und Gold bestickt waren.
Einer von ihnen schien der vornehmste zu sein. Er war sehr bleich, sein Bart war geschoren, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Es hatte den Anschein, als sei er jüngst krank gewesen. Aber sonst sah er aus wie ein fröhlicher, kühner Kavalier, der auf den besonnten Brücken umherginge, um die Leute seine schönen Kleider und sein schönes Gesicht sehen zu lassen.
Elsalill hielt mit der Arbeit und mit der Erzählung inne. Sie stand mit offenem Munde und aufgerissenen Augen da und betrachtete ihn. Und er lächelte ihr zu.
»Wir sind nicht hergekommen, um dich zu erschrecken, Jungfrau«, sagte er, »und wir bitten dich, daß du auch uns gestattest, deiner Erzählung zu lauschen.«
Die arme Elsalill, niemals in ihrem ganzen Leben hatte sie einen solchen Mann gesehen. Sie vermeinte, vor ihm nicht sprechen zu können. Sie schwieg nur und sah hinunter auf ihre Arbeit.
Da begann der Fremde noch einmal: »Sei doch nicht bange, Jungfrau. Wir sind Schotten, die wohl an die zehn Jahre in den Diensten des Königs Johann von Schweden gestanden haben, aber jetzt haben wir Urlaub und wollen heimreisen. Wir sind nach Marstrand gekommen, um eine Fahrgelegenheit nach Schottland hinüber zu finden, aber als wir herkamen, lagen alle Sunde und Fjorde gefroren, und hier müssen wir nun bleiben und warten. Wir haben keinerlei Beschäftigung, und darum schlendern wir über die Brücken, um Leute zu treffen. Wir wären froh, Jungfrau, wenn du uns deine Geschichte hören ließest.«
Elsalill begriff, daß er so lange sprach, um ihr Zeit zu geben, ihre Fassung wiederzuerlangen. Endlich dachte sie bei sich selber: Du mußt doch wohl zeigen, daß du nicht zu gering bist, um mit einem hohen Herrn zu sprechen, Elsalill! Du bist doch eine Jungfrau von guter Geburt, und keine Fischerdirne!
»Ich sprach nur von dem großen Blutbad im Pfarrhof von Solberga,« sagte Elsalill. »Es sind ihrer so viele, die davon zu erzählen wissen.«
»Ja,« sagte der Fremde, »aber ich wußte bis jetzt nicht, daß jemand von Herrn Arnes Leuten mit dem Leben davongekommen ist.«
Da erzählte Elsalill noch einmal von dem Eindringen der wilden Räuber. Sie erzählte, wie die alten Knechte sich um Herrn Arne geschart hatten, um ihn zu schützen, und wie Herr Arne selbst sein Schwert von der Wand gerissen hatte und auf die Räuber eingedrungen war, die aber hatten sie alle besiegt. Und die alte Pfarrersfrau hatte das Schwert ihres Mannes aufgehoben und war auf die Räuber losgegangen, aber sie hatten sie nur ausgelacht und sie mit einem Holzscheit zu Boden geschlagen. Und alle die anderen Frauen hatten sich auf die Ofenmauer verkrochen, aber als die Männer tot waren, kamen die Mörder und rissen sie herunter und töteten sie. »Die letzte, die sie töteten,« sagte Elsalill, »war meine liebe Pflegeschwester. Sie bat so flehentlich um ihr Leben, und zwei von ihnen wollten es ihr schenken, aber der dritte sagte, alle müßten sterben, und stach ihr sein Messer ins Herz.«
Solange Elsalill von Mord und Blut sprach, standen die drei Männer vor ihr still. Sie tauschten keinen Blick miteinander, aber ihre Ohren wurden gleichsam lang vom Horchen, und ihre Augen funkelten, und zuweilen öffneten sich ihre Lippen, so daß die Zahnreihen hervorleuchteten.
Elsalill stand da, die Augen voll Tränen, nicht ein einziges Mal sah sie auf, während sie sprach. Sie sah nicht, daß der Mann vor ihr Augen und Zähne hatte wie ein Wolf. Erst als sie zu Ende gesprochen hatte, trocknete sie ihre Tränen und sah zu ihm auf.
Doch als er Elsalills Augen begegnete, veränderte sich sein Gesicht allsogleich.
»Da du die Mörder so gut gesehen hast, Jungfrau,« sagte er, »hättest du sie wohl sogleich wiedererkannt, wenn du ihnen begegnet wärest?«
»Hab ich sie doch nicht anders gesehen als beim Schein der Kienspäne, die sie aus dem Herde rissen, um sich beim Morden zu leuchten,« sagte Elsalill, »aber dennoch würde ich sie mit Gottes Hilfe wohl wiedererkennen. Und ich bete alle Tage zu Gott, daß ich ihnen begegnen möchte.«
»Was meinst du damit, Jungfrau?« fragte der Fremde. »Es ist doch wahr, daß die mörderischen Wanderer tot sind?«
»Ja, das weiß ich wohl,« sagte Elsalill. »Die Bauern, die ihnen nachjagten, verfolgten ihre Spuren vom Pfarrhof bis zu einer Wake im Eise. Bis dorthin sahen sie auf dem blanken Eisspiegel Spuren von Schlittenkufen, Spuren von Pferdehufen, Fußstapfen von Menschen, die harte, eisenbeschlagene Schuhe getragen hatten. Aber von der Wake führten keine Spuren weiter über das Eis, und darum glaubten die Bauern, daß alle tot wären.«
»Glaubst du, Elsalill, denn nicht, daß sie tot sind?« fragte der Fremde.
»Doch, ich glaube wohl, daß sie ertrunken sind,« sagte Elsalill, »und dennoch bete ich jeden Tag zu Gott, daß sie entronnen sein möchten. Ich spreche so zu Gott: Laß es so sein, daß sie nur mit Pferd und Schlitten in die Wake gefahren, daß sie selbst aber davongekommen sein möchten.«
»Warum wolltest du das, Elsalill?« fragte der Fremde.
Das zarte Mägdlein Elsalill warf den Kopf zurück, und ihre Augen leuchteten: »Ich wollte wohl, daß sie lebten, damit ich sie ausfindig machen und greifen könnte. Ich wollte, daß sie lebten, damit ich ihnen das Herz aus der Brust reißen könnte. Ich wollte, daß sie lebten, damit ich ihren Leib in vier Teile zerstückelt auf das Rad geflochten sähe.«
»Wie wolltest du dies alles bewerkstelligen?« sagte der Fremde. »Du bist ja nur so ein schwaches, kleines Jungfräulein.«
»Wenn sie lebten,« sagte Elsalill, »dann würde ich sie schon der Strafe zuführen. Lieber wollte ich selbst in den Tod gehen, als sie entrinnen lassen. Sie mögen wohl stark und gewaltig sein, das weiß ich, aber mir würden sie nicht entrinnen können.«
Da lächelte