ihren Zügen. Es ist dies erstaunlich, wenn man die näheren Umstände in Betracht zieht, Glauben Sie, dass sie des Lebens Kampf so überdrüssig gewesen sein kann, dass sie den Tod als Erlösung betrachtete, selbst einen gewaltsamen Tod?“
Ein junger Rechtsanwalt, der gerade von New York angekommen war, antwortete:
„Ich sah die Frau nie, von der Sie reden und weiß auch über die näheren Umstände ihres Todes nur das, was ich von Ihnen hörte. Doch aus den sich so auffallend widersprechenden Tatsachen, ihr Ausdruck und der gewaltsame Tod, schließe ich, dass etwas mehr hinter dem Verbrechen steckt, als bis jetzt gefunden wurde.“
„Mehr? Es liegt ein ganz einfacher Raubmord vor. Natürlich weiß man noch nicht, wer der Mörder ist, doch man kennt unzweifelhaft das Motiv und das war ihr Geld. Das ist vollkommen klar!“
„Wollen Sie eine Wette eingehen, dass dies nicht alles ist?“
„Sie vergessen den Rock, den ich trage“, entgegnete der Pastor.
„Das ist wahr“, sagte der andere lächelnd. „Ich wollte auch nur damit andeuten, wie stark meine Überzeugung ist, dass es sich hier um mehr handelt, als um ein einfaches Verbrechen.“
In Portchester saßen zwei Frauen zusammen.
„Agatha war bei mir zum Tee“, erzählte die eine, „als ihre Schwester Sairey gerannt kam, mit der Nachricht, ihr Kind sei krank. Das war Agathas erstes Kind, weißt Du.“
„Gewiss, war ich doch dabei, als das Kind geboren ward“, entgegnete die andere. „Ich sah nie solche Freude, als da ihr der Doktor sagte, das Kind lebe. Ich weiß eigentlich nicht, weshalb sie erwartete, dass das Kind tot wäre, doch sie dachte so und ihre Freude war umso größer, als sie es leben sah.“
„Nun, lange hat sie nicht Freude dran gehabt. Der arme Junge starb bald. Doch ich wollte ja von dem Abend erzählen, als sie zuerst hörte, der Junge sei krank. Philemon hatte gerade einen guten Witz erzählt und wir alle lachten. Da trat Sairey herein.
Ich sehe Agatha noch. „Mein Baby!“ schrie sie und sprang auf, noch ehe ihre Schwester ein Wort gesprochen hatte, „mein Baby ist krank!“
Und obwohl die Schwester ihr sagte, der Junge krächze nur etwas, sei aber nicht krank, warf sie Philemon einen Blick zu, unter dem dieser ebenso erblasste, als Agatha beim Eintreten ihrer Schwester. Eine Woche darauf starb das Kindchen und nie kehrte der alte Frohsinn, das alte Glück wieder bei ihnen ein. Ein zweites Kind kam - und starb; ein drittes, viertes und so oft, bis sechs kleine, unschuldige Kinder nebeneinander begraben lagen.“
„Ich weiß es; und es war traurig genug, wo sie doch Beide Kinder so herzlich gern haben. Ja, des Herrn Wege sind dunkel. Jetzt ist auch sie dahin gegangen, und Philemon-?“
„Wird ihr auch bald folgen“, vollendete die andere. „Der kann nicht ohne Agatha leben.“
Der alte Totengräber von Sutherlandtown, der eben die sechs kleinen Gräber im Kirchhof zu Portchester gesehen hatte, wohin er gesandt worden war, um eine Stelle für die arme Mutter auszusuchen, sprach mit seiner Frau über das Gesehene.
„Ich habe fast mein ganzes Leben in Kirchhöfen verbracht“, sagte er; als ich aber die sechs kleinen Hügel sah und die Grabschriften darüber las, traten mir doch die Tränen in die Augen. Denke Dir nur, auf dem ersten kleinen Stein standen diese Worte:
Stephen
Sohn von Philemon und Agatha Webb,
starb im Alter von sechs Wochen.
Gott sei mir Sünder gnädig!
Was soll das nun bedeuten? Hast Du im Leben so eine Grabschrift gesehen?“
„Nein“, entgegnete die alte Frau. „Vielleicht war sie eine von den Calvinisten, die glauben, Kinder, die nicht getauft sind, kommen nicht in den Himmel.“
„Ihre Kinder waren aber getauft, einige sogar, ehe sie selbst noch außer Bett war, sagte man mir.“
„Gott sei mir Sünder gnädig.“ Ist das eine Grabschrift für ein kleines, unschuldiges Wesen? Merkwürdig, höchst merkwürdig.“
„Was stand über dem Grab des Kindes, das der Blitz in ihren Armen erschlug?“
Und er war nicht für diese Welt
und Gott nahm ihn zu sich.
Farmer Waite hatte nur Weniges zu sagen: „Sie kam zu mir, als Sissy die Blattern hatte. Sie war die einzige Person, die sich zu mir ins Haus getraute. Mehr als das: als Sissy gesund geworden ist und ich den Doktor zahlen wollte, sagte der mir, die Rechnung wäre schon beglichen. Damals wusste ich nicht, wer so viel Liebe für seine Nebenmenschen hatte und so viel Geld besaß; heute weiß ich es.“
Viele edle Taten der letzten zwanzig Jahre, deren Urheber man bis heute nicht gekannt hatte, kamen an diesem Tage ans Licht.
Unter anderem die Erziehung eines gewissen jungen Mannes, der heute Pastor ist.
Auch Herzensangelegenheiten spielten eine Rolle. Ein junges Mädchen, das äußerst feinfühlend war und ihre Eltern mehr fürchtete, als liebte, war mit einem jungen Manne verlobt worden, den sie nicht leiden mochte.
Obwohl Jedermann ihr Elend sah, wagte es doch Niemand, für sie ein Wort zu den Eltern zu sprechen. Da hörte Agatha die Geschichte. Sie riet dem Mädchen - obwohl es kaum vierzehn Tage vor der Hochzeit war - den jungen Mann aufzugeben und als diese ihr erklärte, es fehle ihr hierzu der Mut, sprach Agatha selbst mit dem jungen Mann.
Die Hochzeit fand nicht statt, der junge Mann verließ die Stadt - des Mädchens Dankbarkeit aber kannte keine Grenzen.
Man erzählte sich zahllose Geschichten von ihrem Mut, mit dem sie für die Schwachen eintrat und für alle, auf deren Seite das Recht war. Die Frauen sprachen von ihrem Takt, ihrem Mitgefühl und der liebenden Sorgfalt, mit der sie Verirrte auf den rechten Weg zurückwies.
Mr. Halliday und Mr. Sutherland sprachen über Agatha Webbs geistige Fähigkeiten. Sie besaß einen solch ausgeprägten Charakter und ein solch einfaches Wesen, dass Wenige den edlen Geist berücksichtigten, der all ihrem Tun zu Grunde lag.
Die beiden Herren indes wussten diesen Geist voll zu würdigen und es war im Verlauf ihres Gespräches, dass eine Stimme Frederick, der still zugehört hatte, anredete:
„Du scheinst die einzige Person in der ganzen Stadt zu sein, die nichts über Agatha Webb zu sagen weiß. Hast Du nie mit ihr gesprochen? Es wäre doch kaum denkbar, dass Du Aug in Aug ihr gegenüber gestanden hast und nichts von ihrem Einfluss zu sagen wüsstest.“
Es war Agnes Halliday, welche so gesprochen hatte. Sie war mit ihrem Vater herübergekommen, um mit Mr. Sutherland zu plaudern. Sie war eine von Fredericks Spielkameradinnen gewesen, doch eine, der er sich nie angeschlossen hatte und die ihn nicht leiden konnte.
Er wusste dies ebenso gut, als jeder andere in der Stadt und wandte er sich ihr daher nur zögernd zu, als er antwortete:
„Ich erinnere mich nur einer einzigen Begegnung -.“
Er stockte; sein Blick wanderte aus dem Fenster in den Garten, wo Amabel stand und Blumen pflückte. Sie hatte jedenfalls Miss Hallidays Bemerkung gehört und warf Frederick einen bezeichnenden Blick zu.
„Ich erinnere mich nur einer einzigen Begegnung mit Mrs. Webb“, wiederholte dieser, indem er sich gewaltsam fasste, „von der ich erzählen kann. Vor vielen Jahren als ich noch ein Junge war, spielte ich mit anderen Knaben auf der Wiese. Wir hatten Streit über einen Ball bekommen, ich war ärgerlich und fluchte gottsträflich. Plötzlich sah ich Mrs. Webb vor mir stehen. Sie trug ein einfaches Kleid, wie gewöhnlich und einen Korb am Arm. Doch ihr Gesicht strahlte solche Hoheit aus, dass ich nicht wusste, sollte ich meinen Kopf in den Falten ihres Kleides bergen oder meiner ersten Eingebung folgen und davon laufen.
Sie bemerkte meine Scham und, mich am Kinn fassend, hob sie meinen Kopf zu sich empor und sagte:
„Kleiner Junge, ich habe schon