Frank Hille

Drei Musketiere - Eine verlorene Jugend im Krieg, Band 24


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durch Druck, brutale Hitze und zerfetzt durch alle möglichen metallischen Teile. Eine Granate der Acht-Acht-Flak hatte den Panzer getroffen. Ryschkin war einem Moment wie ertaubt gewesen und etwas Warmes lief aus seinem rechten Ohr heraus: sein Trommelfell war geplatzt. Um ihn herum tobte ein Inferno. Vollkommen erschüttert fragte er sich, was er denn wohl Gott Ungefälliges getan haben sollte, dass er jetzt solcherlei Grauen ausgesetzt war. Vielleicht war er auf der Arbeit zu faul gewesen, hatte stattdessen mit den anderen lieber gesoffen. Oder hatte er zu oft geflucht? Sah Gott ihn als Taugenichts an, der weder mit sich selbst, noch mit anderen etwas Vernünftiges anfangen konnte? Er schwor sich, sollte er diese Vorhölle überleben, danach gleich drei Vaterunser zu beten und von jetzt an das Fluchen und Saufen zu lassen. Er sagte sich aber gleich, dass ihm das in dieser schweren Zeit wohl nicht ganz gelingen würde, und der liebe Gott sicher ein Einsehen hätte, wenn er es denn zumindest ein wenig versuchen würde. Ryschkin wusste in diesem Moment, dass er den Schock überwunden hatte, wenn er jetzt schon darüber nachdenken konnte, was er nach dem Kampf tun würde. Er hörte kaum noch etwas, und sein Wahrnehmungsvermögen schien sich auf die Augen zu konzentrieren. Was er sah sollte sich für alle Zeiten in sein Gedächtnis einbrennen. Wie in Zeitlupe nahm er die Bilder um sich herum beim Vorwärtstaumeln auf. Überall lagen Lebende, Tote, Verwundete, Sterbende. Sich einmal kurz umdrehend sah er brennende Panzer, hochspringende Explosionssäulen, nachrückende Infanteristen. Der Ton in diesem Film fehlte ihm und als sich wieder auf den Höhenzug zudrehte gingen davor Granaten hoch. Endlich hatte die eigene Artillerie ihre Schussunterlagen korrigiert und feuerte nicht mehr in die eigenen Reihen. Jetzt war er sich ganz sicher, dass er dieses Schlachthaus lebend verlassen würde.

      Obwohl sie vor Nervosität bebten, hatten die deutschen Panzerschützen ihre Waffen noch nicht eingesetzt. Allen war die Munitionsknappheit bewusst und es wäre verantwortungslos gewesen, auf die noch drei Kilometer entfernten Ziele zu feuern. Die rote Artillerie hatte sich nun auf den Höhenzug eingeschossen, und alle Besatzungen hockten in ihren Stahlkästen. Vor der Splitterwirkung waren sie ganz gut geschützt, gegen einen Volltreffer machtlos. Manche der Soldaten beteten insgeheim, andere saßen mit zusammengebissenen Kiefern auf ihren Plätzen: ja keine Regung, ja kein Gefühl zeigen, sich männlich geben, kaltschnäuzig wirken. In Wahrheit klapperten allen fast buchstäblich die Zähne, alle hatten Todesangst. Erst wenn sie in den Kampf eingreifen würden wäre es wieder anders: dann müssten sie die vielfach praktizierten Handlungen im Panzerkampf abspulen. Beobachten, Ziele zuweisen, Laden, Richten, Feuern, eventuell die Position des Fahrzeuges verändern. Sicher waren ihre gegenwärtigen Stellungen für sie von Vorteil, aber sie bargen auch gleichzeitig die Gefahr einer Falle. Alle fürchteten sich vor einer Überflügelung, und natürlich waren die Meldungen durchgedrungen, dass die Sowjets im Süden von ihnen schon die Neiße überschritten hatten. Früher hätte man sich damit trösten können, dass es ein regional begrenzter Einbruch wäre, den man mit der Umgruppierung eigener Einheiten wieder abriegeln könnte, aber jetzt sah es ganz anders aus. Die Heeresgruppe Weichsel stand ganz massiert im Seelower Großraum, im Norden und Süden von dieser starken Verteidigungsstellung war aber viel Luft. Fred Beyer konnte sich diese offenkundige Verkennung der Lage nur so erklären, dass einfach keine weiteren eigenen Kräfte mehr verfügbar waren. Mittlerweile lag das Artilleriefeuer der Russen schon gut deckend auf der Höhenkette. Er hatte die Turmluke geschlossen und beobachtete durch die Winkelspiegel. Was sich direkt vor ihnen abspielte konnte er nicht sehen, da der Panzer bis zur Wanne verborgen in einer Art langer Grube stand, so dass nur der Turm mit der langen Kanone über die Deckung hinwegragte. Für die Verteidigung des unmittelbaren Vorfeldes war die Infanterie zuständig, den nach Osten hin abwärtsführenden Hang könnten sie mit dem Geschütz ihres Fahrzeuges ohnehin nicht beschießen. Er hatte sich mit Hertel, seinem Richtschützen, besprochen, und beide schätzten die Entfernung der jetzt vermehrt auf dem Gefechtsfeld auftauchenden russischen Panzer auf 3.500 Meter ein. Das war immer noch zu weit, es hieß also weiter zu warten und den Feindbeschuss auszuhalten. Im Panzer war ununterbrochen ein feines Beben zu spüren, die Detonationen waren zwar weniger geworden, die Einschläge aber näher herangerückt. Beyer stellte sich vor was geschehen würde, wenn eine Granate genau auf seiner Turmluke auftreffen sollte. Der Aufschlagzünder würde nicht so schnell reagieren, dass er sofort und unmittelbar beim Auftreffen auslösen könnte. Vielmehr würde die bloße Wucht des Aufpralls eines etliche Kilogramm wiegenden Geschosses ausreichen, die dünne Aufbaudachpanzerung zu durchschlagen. Die Granate würde erst im Inneren des Panzers explodieren. Beyer war sich schon immer bewusst gewesen, dass er sozusagen auf einem mit Benzin angetriebenen Pulverfass in den Kampf ritt. Er hatte die Gefahr im Gefecht nie unterschätzt und sich auch nicht willentlich in Situationen manövriert, in denen er nur auf sein Glück vertraute. Vielmehr war er doch schon ein kühler Stratege gewesen, der seinen Panzer immer so führen wollte, dass er die Vorteile des Fahrzeuges ausspielen konnte. Trotz ihrer furchteinflößenden Gestalt eines mächtigen Urviechs hatte der "Panther" wie jede Kriegswaffe seine Schwächen. Da er mit zu den ersten Kommandanten gehört hatte, die den neuen Typ hatten übernehmen können, war er durchaus Zeuge der erheblichen Mängel der ersten von den Fabrikbändern gelaufenen Modelle gewesen. Die schwachen Seitenvorgelege, der Hitzestau im gekapselten Motorenraum, das Fehlen eines Bug-MG, vieles war nicht durchdacht oder schlecht umgesetzt worden. Dennoch hielt er den Panzer V für den besten Kampfwagen in seiner Klasse. Die überragende Kampfwagenkanone, die guten Optiken, die abgeschrägte Panzerung: er hätte noch viel mehr aufzählen können. Er würde die Trümpfe seines Panzers so lange nutzen, bis eine feindliche Besatzung schneller war als er mit seinen Männern. Oder sie eine Artilleriegranate erwischte. Darauf hatte er keinerlei Einfluss, er war zum untätigen Warten verdammt. Im schwachen Licht der Kampfraumbeleuchtung fummelte er einen Kanten Brot aus seinem Verpflegungsbeutel und kaute das schon harte Brot gründlich durch. Das beruhigte ihn, aber er war ohnehin nicht ängstlich, eher nervös wie ein Rennpferd vor dem Start. Ziemlich ungerührt beobachtete er weiter. Die Russen hatten sich total verrannt. Immer noch paukte die deutsche Artillerie in die angreifenden Einheiten. Dort wo die Granaten hochgingen gab es keinerlei Deckung, nur schlammigen Boden. Wieder einmal sagte er sich, dass er zwar auf einem Pulverfass hockte, aber ein eventuell tödlich wirkender winziger Metallsplitter einer Granate ihm hinter seinen Panzerplatten nichts anhaben konnte.

      "Wollen wir nicht ein paar Salven zum Einschießen abfeuern" fragte ihn Hertel.

      "Nein. Es ist immer noch zu weit. Wir wühlen nur den Dreck um. Weißt du, woran mich das alles erinnert? An Silvester. Alle stehen schon halb besoffen draußen und glotzen auf ihre Uhren. Jeder ist ungeduldig, und ein paar Leuten reißt der Geduldsfaden. Feuerwerk aus Anlass eines besonderen Ereignisses gab es schon im 14. Jahrhundert. Habe ich mal irgendwo gelesen oder im Chemieunterricht in der Schule gehört. Der Ärger ist natürlich groß, wenn es mit dem Knallen nicht klappt. Und wir können es uns wegen der knappen Munition eben nicht leisten, hier sinnlos rumzuballern, ohne dass es was bringt. Ich weiß, das Warten geht allen an die Nerven. Außerdem würden wir aber auch noch unsere Feuerstellung zu zeitig enttarnen. Und von hier aus wollen wir dem Iwan ja noch ordentlich Zunder geben. Kramer, gib mal an die Kommandanten durch, dass immer noch Feuersperre herrscht."

      Beyer presste seinen Rücken an die Turmrückwand. Wie oft hatte er im Panzer schlafen müssen, wenn es keine Quartiere gab, oder Gefechtsbereitschaft befohlen war. Der Mensch gewöhnt sich eben an alles dachte er verbittert, auch daran, wie in einem fast dunklen Bergwerk zu hocken und giftige Gase nach dem Abschuss einzuatmen. Das war eine Sache, die bestimmt noch Folgen haben könnte, sofern er überleben würde. Immer wenn sie nach einem Kampf die Luken geöffnet hatten waren Schwaden von undefinierbarer Farbe aus dem Kampfraum gezogen. Die Männer selbst waren schwarz: im Gesicht, an den Händen, den Armen. Er könnte wetten, dass die Gase und die Partikel die sie einatmeten, garantiert nicht gesund waren. Der Lüfter im Aufbaudach war wohl eher symbolisch gedacht. Natürlich würde es Untersuchungen über die Gefährlichkeit der Gase und Stoffe geben, aber sollten sie mit der Gasmaske in den Panzerkampf gehen, bei dem gute Sicht enorm wichtig war? Martin Haberkorn hatte ihm einmal erzählt, dass die Schadstoffkonzentrationen in den U-Booten auch hoch wären. Klar, die fuhren mit Batterien, die eben auch mal gasen konnten. Die Leute an Bord gaben mit ihrem Atem Kohlendioxid ab. Alles schädlich, alles ungesund. Er stellte sich vor und musste bei diesem Gedanken grinsen, er würde den Kampf mit der Begründung verweigern, dass die Pulvergase schlecht für seine Lunge wären. Die Gesichter würde er gern einmal sehen! Man würde