weil die Wirkungen des unbedingten Handelns im kleinen viel geschwinder merklich und schädlich werden als im großen. Viele Häuser waren verschuldet und kaiserliche Debitkommissionen ernannt; andre fanden sich langsamer oder geschwinder auf demselben Wege, wobei die Diener entweder gewissenlos Vorteil zogen, oder gewissenhaft sich unangenehm und verhaßt machten. Moser wollte als Staats- und Geschäftsmann wirken; und hier gab sein ererbtes, bis zum Metier ausgebildetes Talent ihm eine entschiedene Ausbeute, aber er wollte auch zugleich als Mensch und Bürger handeln und seiner sittlichen Würde so wenig als möglich vergeben. Sein »Herr und Diener«, sein »Daniel in der Löwengrube«, seine »Reliquien« schildern durchaus die Lage, in welcher er sich zwar nicht gefoltert, aber doch immer geklemmt fühlte. Sie deuten sämtlich auf eine Ungeduld in einem Zustand, mit dessen Verhältnissen man sich nicht versöhnen und den man doch nicht los werden kann. Bei dieser Art zu denken und zu empfinden mußte er freilich mehrmals andere Dienste suchen, an welchen es ihm seine große Gewandtheit nicht fehlen ließ. Ich erinnere mich seiner als eines angenehmen, beweglichen und dabei zarten Mannes.
Aus der Ferne machte jedoch der Name Klopstock auch schon auf uns eine große Wirkung. Im Anfang wunderte man sich, wie ein so vortrefflicher Mann so wunderlich heißen könne; doch gewöhnte man sich bald daran und dachte nicht mehr an die Bedeutung dieser Silben. In meines Vaters Bibliothek hatte ich bisher nur die früheren, besonders die zu seiner Zeit nach und nach heraufgekommenen und gerühmten Dichter gefunden. Alle diese hatten gereimt, und mein Vater hielt den Reim für poetische Werke unerläßlich. Canitz, Hagedorn, Drollinger, Gellert, Creuz, Haller standen in schönen Franzbänden in einer Reihe. An diese schlossen sich Neukirchs »Telemach«, Koppens »Befreites Jerusalem« und andre Übersetzungen. Ich hatte diese sämtlichen Bände von Kindheit auf fleißig durchgelesen und teilweise memoriert, weshalb ich denn zur Unterhaltung der Gesellschaft öfters aufgerufen wurde. Eine verdrießliche Epoche im Gegenteil eröffnete sich für meinen Vater, als durch Klopstocks »Messias« Verse, die ihm keine Verse schienen, ein Gegenstand der öffentlichen Bewunderung wurden. Er selbst hatte sich wohl gehütet, dieses Werk anzuschaffen; aber unser Hausfreund, Rat Schneider, schwärzte es ein und steckte es der Mutter und den Kindern zu.
Auf diesen geschäftstätigen Mann, welcher wenig las, hatte der »Messias« gleich bei seiner Erscheinung einen mächtigen Eindruck gemacht. Diese so natürlich ausgedrückten und doch so schön veredelten frommen Gefühle, diese gefällige Sprache, wenn man sie auch nur für harmonische Prosa gelten ließ, hatten den übrigens trocknen Geschäftsmann so gewonnen, daß er die zehn ersten Gesänge, denn von diesen ist eigentlich die Rede, als das herrlichste Erbauungsbuch betrachtete, und solches alle Jahre einmal in der Karwoche, in welcher er sich von allen Geschäften zu entbinden wußte, für sich im stillen durchlas und sich daran fürs ganze Jahr erquickte. Anfangs dachte er seine Empfindungen seinem alten Freunde mitzuteilen; allein er fand sich sehr bestürzt, als er eine unheilbare Abneigung vor einem Werke von so köstlichem Gehalt, wegen einer, wie es ihm schien, gleichgültigen äußern Form, gewahr werden mußte. Es fehlte, wie sich leicht denken läßt, nicht an Wiederholung des Gesprächs über diesen Gegenstand; aber beide Teile entfernten sich immer weiter von einander, es gab heftige Szenen, und der nachgiebige Mann ließ sich endlich gefallen, von seinem Lieblingswerke zu schweigen, damit er nicht zugleich einen Jugendfreund und eine gute Sonntagssuppe verlöre.
Proselyten zu machen ist der natürlichste Wunsch eines jeden Menschen, und wie sehr fand sich unser Freund im Stillen belohnt, als er in der übrigen Familie für seinen Heiligen so offen gesinnte Gemüter entdeckte. Das Exemplar, das er jährlich nur eine Woche brauchte, war uns für die übrige Zeit gewidmet. Die Mutter hielt es heimlich, und wir Geschwister bemächtigten uns desselben, wann wir konnten, um in Freistunden, in irgend einem Winkel verborgen, die auffallendsten Stellen auswendig zu lernen, und besonders die zartesten und heftigsten so geschwind als möglich ins Gedächtnis zu fassen.
Portias Traum rezitierten wir um die Wette, und in das wilde verzweifelnde Gespräch zwischen Satan und Adramelech, welche ins Rote Meer gestürzt worden, hatten wir uns geteilt. Die erste Rolle, als die gewaltsamste, war auf mein Teil gekommen, die andere, um ein wenig kläglicher, übernahm meine Schwester. Die wechselseitigen, zwar gräßlichen aber doch wohlklingenden Verwünschungen flossen nur so vom Munde, und wir ergriffen jede Gelegenheit, uns mit diesen höllischen Redensarten zu begrüßen.
Es war ein Samstagsabend im Winter – der Vater ließ sich immer bei Licht rasieren, um Sonntags früh sich zur Kirche bequemlich anziehen zu können – wir saßen auf einem Schemel hinter dem Ofen und murmelten, während der Barbier einseifte, unsere herkömmlichen Flüche ziemlich leise. Nun so hatte aber Adramelech den Satan mit eisernen Händen zu fassen; meine Schwester packte mich gewaltig an, und rezitierte, zwar leise genug, aber doch mit steigender Leidenschaft:
Hilf mir! ich flehe dich an, ich bete, wenn du es forderst,
Ungeheuer, dich an! Verworfner, schwarzer Verbrecher,
Hilf mir! ich leide die Pein des rächenden ewigen Todes! …
Vormals konnt' ich mit heißem, mit grimmigem Hasse dich hassen!
Jetzt vermag ich's nicht mehr! Auch dies ist stechender Jammer!
Bisher war alles leidlich gegangen; aber laut, mit fürchterlicher Stimme rief sie die folgenden Worte:
O wie bin ich zermalmt!
Der gute Chirurgus erschrak und goß dem Vater das Seifenbecken in die Brust. Da gab es einen großen Aufstand, und eine strenge Untersuchung ward gehalten, besonders in Betracht des Unglücks, das hätte entstehen können, wenn man schon im Rasieren begriffen gewesen wäre. Um allen Verdacht des Mutwillens von uns abzulehnen, bekannten wir uns zu unsern teuflischen Rollen, und das Unglück, das die Hexameter angerichtet hatten, war zu offenbar, als daß man sie nicht aufs neue hätte verrufen und verbannen sollen.
So pflegen Kinder und Volk das Große, das Erhabene in ein Spiel, ja in eine Posse zu verwandeln; und wie sollten sie auch sonst imstande sein, es auszuhalten und zu ertragen!
Drittes Buch
Der Neujahrstag ward zu jener Zeit durch den allgemeinen Umlauf von persönlichen Glückwünschungen für die Stadt sehr belebend. Wer sonst nicht leicht aus dem Hause kam, warf sich in seine besten Kleider, um Gönnern und Freunden einen Augenblick freundlich und höflich zu sein. Für uns Kinder war besonders die Festlichkeit in dem Hause des Großvaters an diesem Tage ein höchst erwünschter Genuß. Mit dem frühsten Morgen waren die Enkel schon daselbst versammelt, um die Trommeln, die Hoboen und Klarinetten, die Posaunen und Zinken, wie sie das Militär, die Stadtmusici und wer sonst alles ertönen ließ, zu vernehmen. Die versiegelten und überschriebenen Neujahrsgeschenke wurden von den Kindern unter die geringern Gratulanten ausgeteilt, und wie der Tag wuchs, so vermehrte sich die Anzahl der Honoratioren. Erst erschienen die Vertrauten und Verwandten, dann die untern Staatsbeamten; die Herren vom Rate selbst verfehlten nicht ihren Schultheiß zu begrüßen, und eine auserwählte Anzahl wurde abends in Zimmern bewirtet, welche das ganze Jahr über kaum sich öffneten. Die Torten, Biskuitkuchen, Marzipane, der süße Wein übte den größten Reiz auf die Kinder aus, wozu noch kam, daß der Schultheiß sowie die beiden Burgemeister aus einigen Stiftungen jährlich etwas Silberzeug erhielten, welches denn den Enkeln und Paten nach einer gewissen Abstufung verehrt ward; genug, es fehlte diesem Feste im kleinen an nichts, was die größten zu verherrlichen pflegt.
Der Neujahrstag 1759 kam heran, für uns Kinder erwünscht und vergnüglich wie die vorigen, aber den ältern Personen bedenklich und ahndungsvoll. Die Durchmärsche der Franzosen war man zwar gewohnt, und sie ereigneten sich öfters und häufig, aber doch am häufigsten in den letzten Tagen des vergangenen Jahres. Nach alter reichsstädtischer Sitte posaunte der Türmer des Hauptturms, so oft Truppen heranrückten, und an diesem Neujahrstage wollte er gar nicht aufhören, welches ein Zeichen war, daß größere Heereszüge von mehreren Seiten in Bewegung seien. Wirklich zogen sie auch in größeren Massen an diesem Tage durch die Stadt; man lief, sie vorbeipassieren zu sehen. Sonst war man gewohnt, daß sie nur in kleinen Partien durchmarschierten; diese aber vergrößerten sich nach und nach, ohne daß man es verhindern konnte oder wollte. Genug, am 2.