Daimon Legion

Die Stunden der Nacht


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Welthund, Roggenwolf, Bärenwolf, Kludde, Eisengrind – die Liste ist lang. Allerdings sind viele dieser Wesen in ländlichen Regionen zu Hause und meiden die Großstädte, die ihnen mit ihren hellen Nächten zuwider sind. Schwer zu glauben, dass auch Kreaturen der Hölle etwas abscheulich finden, wie?

      Nur wenige Dämonenhunde suchen bewusst die Nähe vieler Menschen auf, scheuen das künstliche Licht nicht und fressen bevorzugt viel im Winter, wenn die Nächte lang sind, um dem Sonnenlicht zu entgehen.

      Ich will den Teufel nicht an die Wand malen, aber in Anbetracht der in kurzer Zeit gestiegenen Zahl an Vermissten, der abgenagten Knochen und der partiell auftretenden Versorgungsprobleme der Stromwerke, rechne ich damit, dass diese Stadt aktuell von einem Rudel Lichtfänger heimgesucht wird.“

      Jeder andere hätte nach diesem Vortrag gelacht und die Ambulanz angerufen. Für kluge, rationale Ohren war das, was Jules erzählte, ein Fall für die Anstalt. Wie oft hatte man ihn für seine Theorien verhöhnt und sein Wissen als Fantasie abgetan? Ammenmärchen, Gruselgeschichten und wilde Spekulationen – zu mehr genügte den Leuten „sein kleines Hobby“ nicht. Er sollte lieber Romane schreiben als wissenschaftliche Texte zu verfassen. Dann würde er zumindest was daran verdienen.

      Dani jedoch lachte nicht. Er wusste, dass für sie diese Vermutung alles änderte. Siebzehn Jahre hatte sie fieberhaft darauf gewartet, dass diese Geschöpfe auf ihrer Route zurückkehrten. Die Zeit für ihre lang ersehnte Rache war gekommen.

       Lichtfänger. Canis lucis flagrare. Dämonen in der Gestalt großer Hunde oder Wölfe. Überaus gefährlich für jeden Menschen, der sich des Nachts auf die Straße wagt. Ihre Krallen sind hart und scharf wie Damaszenerstahl und ihre Zähne machen auch vor einer Eisenrüstung nicht Halt. Sie leben in kleinen Gruppen, ihre Territorien sind weltweite Landstriche und sie wandern stets umher, immer auf der Suche nach Nahrung. Dabei fressen sie nicht nur Menschenfleisch, sondern auch Energie, was oft zu Stromausfällen führt. Stromzehrer werden sie deswegen auch genannt. Kurokiba oder der Schwarze Wolf, der mit Blitz und Donner erscheint und seine Opfer verschlingt. Der böse Meister Isegrim bei Rotkäppchen ist kein Märchen. Unaufgeklärt ist der Fall der mörderischen Bestie von Cévaudan. Meneur des Loups nannten die Franzosen eine Bestie, die mit Menschenzunge sprach …

      Unzählige Berichte aus jedem Buch, dass er zum Thema Monster gelesen hatte, fluteten Jules’ Hirn. Wissen aus Jahrhunderten, Tausende von Volkssagen und Millionen von Gerüchten.

      Sollten Kleingeister wie Immanuel Reinert denken, bei ihm seien zig Schrauben locker. Es gab Titel, die die stumpfsinnige Universität ihm nicht verleihen konnte.

      Jules war Professor für paranormale Erscheinungen, Dämonologie, Kryptozoologie und Metaphysik. Rein „hobbymäßig“.

      Und Dani glaubte ihm.

      Sie hatte ihm auch schon bedingungslos geglaubt, als sie sich gerade erst kennengelernt hatten.

      War es doch ein Lichtfänger gewesen, der ihre Eltern tötete.

      4

       Kindheitserinnerungen

       Zur Weihnachtszeit putzte sich die Innenstadt festlich heraus mit goldenen Schleifen und riesigen roten Schmuckkugeln. Überall roch es nach Zuckerwatte, Gewürz und Glühwein. Menschenmassen trafen auf dem Markt zusammen, während auf der Schaubühne ein Kinderchor Lieder vom Heiligen Christ sang und ein verkleideter Mann den Nikolaus mimte.

       Die siebenjährige Dani verfolgte mit offenem Mund die wackelnden Holzspielzeuge in einer Bude, derweil ihre Eltern Grog tranken. Ihre Mutter hatte Kerzen zum Verschenken gekauft. Sie war eine schöne, schlanke Frau mit langen blonden Haaren, die ihre Tochter geerbt hatte.

       Auch wenn kein Schnee lag, ließ ein kalter Luftzug das Mädchen frösteln. Allmählich wurde es spät. Die Ziegen bei der aufgestellten Krippe hatte man bereits in den provisorischen Stall gesperrt und die hiesige Großstadtjugend begann laut auf ihre Art die Festtage zu genießen.

       „Lass uns heimgehen, Daniela“, sagte ihr Vater. Wenn sie ihn so in seiner dicken Winterjacke betrachtete, erinnerte er sie an einen großen Teddybären mit dunklem Fell. Mit Leichtigkeit hob er sie in die Höhe und nahm sie auf die breiten Schultern, um sie unbeschadet durch das Gedränge führen zu können.

       Die Straßenbahnen waren auch voll. Ihr Vater beschützte sie und ihre Mutter vor betrunkenen Fahrgästen und überließ ihnen den sicheren Sitzplatz. Zu diesem Zeitpunkt glaubte Dani, dass ihr Vater der stärkste Mann der Welt war. Er schien nichts und niemanden zu fürchten.

       Auf dem Heimweg gähnte das Mädchen und ihre Mutter flüsterte beruhigend: „Wir sind gleich zu Hause.“

       Die Nacht war still. Alle Menschen waren wohl in der Stadt auf dem Weihnachtsmarkt. Schwibbögen und Abendsterne leuchteten in den schwarzen Fenstern.

       Aus heiterem Himmel hörte sie plötzlich ihren Vater fluchen: „Was zum Teufel …“ Erstarrt blieb er auf dem Weg stehen. Auch ihre Mutter rührte sich nicht mehr. Dani sah müde in ihre Blickrichtung.

       Ein Stromkasten stand seitlich des Pfades. Das Plastikgehäuse war aufgebrochen und etwas riss mit kräftigen Zähnen an den elektrischen Kabeln, dass gelb-blaue Funken sprühten. Ein Mensch hätte sich einen Schlag geholt, doch dieses Wesen schien die austretende Energie wie einen Saft zu trinken. Hätte es das nicht getan, würde Dani denken, dort stände bloß ein riesiger, pechschwarzer Hund vor ihnen.

       Kaum dass dieser seine Beobachter bemerkte, ließ er von seiner Strommahlzeit ab. Mit hochgezogenen Lefzen zeigte er ihnen seinen mächtigen Kiefer und knurrte aus tiefer Kehle. Die gewaltigen Tatzen traten näher an die Menschen heran.

       Vater stellte sich vor Mutter und Tochter und sprach: „Lauft! Ich werde das Biest aufhalten!“

       Danis Mutter wollte protestieren, doch das Monster griff an. Es sprang mit ungeheurer Schnelligkeit vorwärts und verbiss sich im Hals des Mannes, dass er nur noch gurgelnd schreien konnte von all dem Blut in seinem Rachen. Es drückte ihn zu Boden und schlug erneut zu, bis der Körper aufhörte zu zucken.

       Mit triefendem Maul hob der Dämon den Schädel und lachte heiser. Ja, er lachte so schadenfroh und furchtbar, dass die Mutter Dani von sich stieß und brüllte: „Lauf weg!“, bevor er auch sie anfiel. Aber er tötete sein unterlegenes Opfer nicht sofort wie ihren Mann. Das Kind wankte zitternd einige Schritte zurück und sah mit tränenden Augen, wie der Wolf die Frau gierig betrachtete. Sein widerliches Grinsen wurde breiter, als sie von Angst zerfressen um Worte rang.

       „Lauf weg!“, hörte Dani sie schluchzen, ehe das Ungeheuer seine Krallen an ihr schärfte.

       Und sie rannte. Blind rannte das kleine Mädchen die Straße zurück, vorbei an der Haltestelle, immer weiter. Sie rannte, bis ihr alles schmerzte, und hörte nicht auf, denn sie wusste, er war direkt hinter ihr. Seine Pfoten hörte sie wie Hufschläge auf dem Asphalt trommeln.

       Ihre Kräfte ließen nach. Ein schwarzer Schatten zog an ihr vorbei und riss ihr den Arm zu einer klaffenden Wunde auf. Dani taumelte, stürzte, blieb keuchend am Boden liegen. Es war aus mit ihr. Jetzt würde sie sterben. Das Letzte, was sie auf Erden sehen würde, waren die Zähne dieser grausamen Kreatur, die um sie her ihre Kreise enger zog.

       Furchtsam blickte sie den Wolf in die eisengrauen Augen, die sie hungrig besahen. Er trat ihr auf den verletzten Arm, um sie unten zu halten. Etwas an dieser Pelzpranke war merkwürdig. Unvollständig …

       Dani wimmerte.

       Ihr war ganz schlecht vor nackter Angst.

       Sie wusste, sie würde sterben.

       Aufgefressen.