Marcel Karrasch

Das Gegenteil der Wirklichkeit


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war es kein Wunder, dass seine Nachbarin Judith so locker mitspielte.

      Da er seine schnelle Abreise vorbereiten musste, erzählte er ihr in Kurzform, womit er aktuell sein Geld verdiente und dass er sich nun um eine Zugverbindung kümmern müsste. Sie bot sich postwendend als Praktikantin ohne Verdienst an, um die Gelegenheit zu erhalten, einem guten Koch über die Schulter zu schauen und, das dachte sie sich still, Zugang zur Villa Steinfeld in Frankfurt zu erhalten. Für Randolf war das eine echte Win-win-Situation, da er Spesen und Hilfspersonal voll abrechnen konnte und zusätzlich eine attraktive Begleitung hatte, was sich eventuell zusätzlich positiv auf seine Reputation auswirken konnte. Sofern sie nicht zu sehr im Weg stand.

      Als der ICE aus dem Bahnhof rollte, hatten sie zwei hektische, aber effiziente Stunden hinter sich: der immer fertige Kochutensilienkoffer plus zweimal kleine Garderobe, kurze Nachricht an die Nachbarin, aus deren Wohnung noch kein Ton zu vernehmen war, und dann per Tram zum Bahnhof. Das ging erfahrungsgemäß am schnellsten. Die nächsten gut vier Stunden boten Zeit, die schnellentschlossene Praktikantin für ihre Rolle als Assistentin zu instruieren. Im echten Leben arbeitete sie in einer Galerie und für Auktionshäuser, mit welchen sie den Traum teilte, eines Tages ein verschwundenes Meisterwerk zu entdecken.

      Da Metzger es strikt ablehnte, fertig belegte Baguettes aus einem der immer zahlreicher werdenden Bahnhofsverkaufsständen zu kaufen, versorgten sie sich mit ausreichend gutem Roggenbrot, einem Pfund Sbrinz, Rebeccas Lieblingshartkäse, herrliche Mortadella mit Pistazien, Mayonnaise, den Umständen geschuldet aus der Tube und für den ordentlichen Rahmen eine weiß-rot karierte Tischdecke. Sie hatten noch zwei Plätze am Tisch im Großraum der zweiten Klasse ergattert und fingen schon kurz nach Freiburg an, den Hunger zu stillen.

      Die Kontrolleurin, die kurz hinter Basel schon einmal die Karten kontrolliert hatte, blieb nun nochmals stehen und fragte, ob sie neu zugestiegen wären, mit einem anerkennenden Blick ob des für den Großraumwagen nahezu festlich gedeckten Tisch. Lediglich die Plastikwasserflaschen passten nicht ins Bild. Professionell schlug die junge Kontrolleurin mit dem nach anderen Berufsbildern klingenden Vornamen Monique die höffliche Einladung zu kosten aus.

      Metzger fing an, begleitet von den interessierten Rückfragen seiner neuen Assistentin, das Menü zusammenzustellen.

      In einem längeren Telefonat mit Hans, seinem direkten Auftraggeber, versuchte er anhand der Charakteristik der Gesellschafft, des Anlasses und der Gästezahl, ein geeignetes Szenario zu planen, das dem Essen genug Aufmerksamkeit verlieh, sich aber trotzdem nicht als Hauptanlass in den Vordergrund drängte.

      18 bis 20 Personen waren gut zu zweit zu bewältigen und nach Aussage von Hans bot die Küche des Hauses einen sechsflammigen Herd mit übergroßem Backofen. Die Eventagentur musste nun noch das passende Geschirr, Besteck und Gläser anliefern. Die Getränke würde er morgen als Erstes anliefern lassen, damit sich der Wein beruhigen konnte und das Bier und der Champagner auch sicher gekühlt waren. Der heutige Abend würde noch reichen, den Menüplan semantisch aufzubereiten und die entsprechenden Informationen und Formulierungen an Hans zu mailen, damit dieser noch ein wenig zusätzliche Verpackung für das Gesamtpaket lieferte, das dann, wie meistens, zufriedene Gäste und damit den zufriedenen Auftraggeber zurückließ.

      21

      Es war kurz vor Mitternacht und Frank Landweil fühlte sich unausgelastet. Der vergangene Tag war vielseitig und vor allem merkwürdig gewesen, doch strengte das Sitzen in einer Bahn mehr physisch als psychisch an. Er versuchte, die vergangenen Ereignisse für sich Revue passieren zu lassen und wusste nicht, ob er dem Geschehenen einen gewichtigen Wendepunkt in seinem Leben oder eine kindliche Flucht aus dem Alltag zuschreiben sollte. Er saß immer noch im Zug und das monotone Rattern der schweren Wagons, wie sie unaufhaltsam in Richtung Frankfurt donnerten, beunruhigte ihn. Mehr wegen des Ziels als der Fahrt an sich. Am frühen Morgen erreichten sie die Metropole am Main.

      Einen überdrehten Moment suchte er beim Aufstehen nach seinem Gepäck. Es vergingen überlange Sekunden, bis ihm einfiel, dass er keines hatte. Er stieg aus dem Zug und stand verloren vor der Wagentür. Der entnervte Hinweis eines Mannes in Anzug mit Aktenkoffer in der Hand hinter ihm ließ ihn aus seiner Abwesenheit erwachen. Nicht genug, um seinen Beinen die nötigen Signale zu senden, sich vorwärts zu bewegen, sodass er unsanft nach vorne fiel, als ihn ein Aktenkoffer im Rücken wegdrückte. Er konnte sich gerade noch mit den Händen abstützen, um nicht völlig auf dem Boden zu landen. Geradewegs vor diesen erblickte er ein Paar Schuhe, das ihm merkwürdig bekannt vorkam. Er blickte an einer wildgemusterten Stoffhose hinauf. Monique schaute ihn irritiert an.

      „Suchst Du was?“, fragte sie ihn, als er sich peinlich berührt aufrappelte und die Hose abklopfte. „Ich weiß nicht, vielleicht ja“, entgegnete ein sichtlich überforderter Frank Landweil. Sie nahm kommentarlos seine Hand und zog ihn in Richtung Ausgang. Sie klärten noch die Details, wann sie in der Villa Steinfeld sein sollte und er gab ihr die Adresse. Sie hatte es strikt abgelehnt mit ihm dort aufzutauchen, sie würde nachkommen versprach sie und pünktlich da sein. Kaum hatte er sich verabschiedet, ein einzelner Wangenkuss, verschwand sie in einem Taxi, dessen Lichter sich alsbald in denen der anderen Autos verloren.

      Wenn Frank Landweil normalerweise in die Stadt seiner Kindheit zurückkam, machte er eine kleine Tour durch sein altes Stammcafé, seine Lieblingseinkaufsstraße und traf sich mit den wenigen Bekannten, die er in der Stadt noch hatte. Heute war er ratlos, was er mit dem Tag anfangen sollte. So früh morgens bei seinem Bruder aufzutauchen war sinnlos. Er würde zur Arbeit müssen wie jeder andere auch. Sein kleines geliebtes Stammcafé würde wie seit Jahren schon um neun Uhr öffnen. Aus der Not heraus hob er den Arm und winkte ein Taxi heran.

      „Erste Mal in Frankfurt?“, ein junger arabisch aussehender Mann mit vollem Bart und freundlichen Augen schaute ihn fragend über den Rückspiegel an. Und da war sie wieder, die Manie, die er in den letzten Stunden nicht mehr gespürt hatte. Er begann ein Gespräch mit dem Taxifahrer, der Student der Informatik war, und nur nebenbei als Taxifahrer jobbte. Sie lachten viel und unterhielten sich über die Stadt und wie sie sich verändert hatte oder zu haben schien. Er ließ sich mit einem kleinen Schlenker am Main vorbei in die Goethestraße fahren. Für den Abend war extra ein Event-Koch engagiert worden und es würden neben seinen Großeltern und seinen Eltern auch Freunde der Familie, vor allem Freunde seines Vaters, anwesend sein. Ein Anzug oder etwas Ähnliches war folglich Pflicht.

      Frank Landweil war jemand, der genau wusste, was er wollte, zumindest in Stilfragen. Er kaufte einen klassischen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd mit Manschettenknöpfen und ein enganliegendes weißes T-Shirt zum Unterziehen. Zu dem blauen Kleid von Monique wollte er keine Experimente eingehen und entschied sich gegen eine Musterung. Da er öfters bei diesem Schneider kaufte, wurde ihm versprochen, dass er den angepassten Anzug gegen Mittag abholen könnte. „Oder in das übliche Hotel liefern lassen?“, fragte der kleine Mann mit dem Nadelkissen am Arm. „Nein, nein, ich komme vorbei“, entgegnete er – sein übliches Hotel blieb bei diesem Aufenthalt leer. Nun lief er doch, nach einem Blick auf die Uhrzeit, über die Zeil hinweg zu seinem kleinen Lieblingscafé auf der Bergerstraße. Schon in seiner Schul-, später dann in seiner Studienzeit hatte er ganze Nachmittage dort verbracht. Er freute sich umso mehr, als er beim Eintreten ein bekanntes Gesicht erblickte. Ein älterer Herr in weißem Hemd war das Urgestein und Herz des Ladens. Sie plauderten kurz im Stehen, dann setzte er sich zu ihm an einen kleinen Tisch in der Ecke. Der Abend in der Villa Steinfeld rückte immer näher, wie eine böse Vorahnung, die man intuitiv spürt.

      22

      Er hatte etwas recherchiert, um seinem Prinzip treu zu bleiben, möglichst gut vorbereitet zu sein. Bei der kurzen Vorbereitungszeit lag die Betonung auf möglichst. Der Name „Villa Steinfeld“ ging auf seine ehemaligen Eigentümer zurück. Jüdische Kaufleute, die bis zuletzt in Frankfurt mit ihrer großen lebendigen jüdischen Gemeinde ausharrten, um dann doch dem Naziterror in letzter Minute zu entfliehen. Wenn er richtig informiert war, war der Zufluchtshafen Nordamerika, was auf einen gewissen, zumindest gewesenen Vermögenshintergrund schließen ließ. Mehr war auf die Schnelle nicht aus dem Google-Gott herauszuholen. Es war also keineswegs notwendig ein vermintes Gelände hinsichtlich