Heike Schwender

Sonne, Mond und Troll


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wird jetzt mit dem Wasser geschehen?“, versuchte ich den Riesen von unserer gemeinsamen Mahlzeit abzulenken.

      Das große Geschöpf, das mir zuliebe auf dem Boden Platz genommen und mir den einzigen Stuhl überlassen hatte, sah mich an. „Es wird die Senke füllen und den See bilden, der dort zu sein hat. Dann ist diese Welt wieder im Gleichgewicht. Es wird immer genau so viel Wasser von der Sonne entführt werden, wie aus dem Berg fließt.“

      Ich nickte nachdenklich. Das enthielt durchaus einen tieferen Sinn. Aber etwas verstand ich noch nicht.

      „Wieso hast du den Wasserhahn nicht aufgedreht?“, wollte ich wissen.

      Das Gesicht des Riesen nahm einen verdutzten Ausdruck an. „Welchen Wasserhahn?“

      Verwirrt blickte ich ihn an. „Den, der sich an der Seite des Rohres befindet.“

      Der bärtige Hüne schüttelte den Kopf. „Er muss so klein sein, dass ich ihn nicht wahrnehmen kann“, meinte er bedauernd.

      Ich starrte meinen Gastgeber an. So einfach war sie also, die Erklärung. Und auch – so schwer.

      Auf der Suche nach Worten, die dem Riesen mein Mitleid kundtun würden, öffnete ich den Mund. Doch irgendetwas an der Arglosigkeit des Anderen ließ mich keine Worte finden. Es schien, als würde der Riese seine eingeschränkte Perspektive einfach so hinnehmen. Es war, als würde er nicht einmal auf die Idee kommen, sie ändern oder erweitern zu wollen. Also hielt ich mich ebenfalls zurück.

      „Warum bist du gekommen?“, fragte mich mein Gastgeber plötzlich. Der Gedankensprung irritierte mich, erinnerte mich aber gleichzeitig wieder an den eigentlichen Grund meines Hierseins.

      „Ich bin auf der Suche nach der Tochter des Mondes.“

      Sofort wurde der Blick des Riesen misstrauisch. „Warum?“, wollte er wissen.

      Ich überlegte einen Augenblick lang. „Weil ihre Mutter in Trauer ist und ich sie gerne daraus befreien würde“, antwortete ich dann langsam. Und in dem Moment, in dem ich die Worte aussprach, wusste ich, dass sie der Wahrheit entsprachen. Das war der Grund für meine Suche. Nicht mein langweiliger Alltag zu Hause. Nicht der Besuch oder Auftrag eines Trolls. Sondern das Gefühl, jemandem helfen zu müssen, der sich in so tiefer Trauer vergraben hatte, dass ihm der Sinn seines Lebens abhandengekommen war.

      Der Riese sah mich eindringlich an und nickte dann zustimmend. Sein Blick glitt von mir zu den Bildern, die seine Wand schmückten und die ich bereits bei meinem unerlaubten Eindringen bewundert hatte.

      „Sie war hier“, meinte er ruhig.

      Ich erstarrte. Tatsächlich? Das war meine erste richtige Spur!

      „Sie war entsetzt, als sie das Ungleichgewicht sah, das in dieser Welt bis zum heutigen Tag herrschte. Sie versuchte, die Dinge in Ordnung zu bringen, doch es gelang ihr nicht.“

      Der Blick des Riesen hing immer noch wie gebannt an den Bildern.

      „Als sie feststellen musste, dass es nicht ihr Schicksal war, diese Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen, überkam sie Verzweiflung. Als sie dann ging …“ Die Stimme des bärtigen Hünen wurde leiser und bekam einen traurigen Klang, „ … als sie dann ging, geschah es in der Hoffnung, anderen Welten ihre natürliche Ordnung zurückzubringen. Woanders zu versuchen, was ihr hier nicht gelungen war.“

      Ich war erleichtert, endlich eine Spur zu haben. Eine Spur, der ich weiter folgen konnte. Die Tochter des Mondes war irgendwo dort draußen und wartete darauf, gefunden zu werden.

      Dennoch mischte sich auch Verwirrung in meine Erleichterung. So ganz war mir noch nicht klar, was hier eigentlich passierte.

      Nachdenklich blickte ich dem Riesen in dessen bärtiges Gesicht. „Warum sind denn die Welten im Ungleichgewicht?“, stellte ich ihm die Frage, die mir am Herzen lag.

      Mit der Reaktion des Hünen hatte ich allerdings nicht gerechnet. Er sah sich auf einmal beinahe ängstlich um und schüttelte den Kopf. Ob er mir damit bedeuten wollte, dass er es nicht wüsste oder dass er nicht darüber reden könnte, war mir nicht klar.

      „Ich bin dir wirklich überaus dankbar für deine Hilfe“, versicherte mir der Riese, während er sich aus seiner sitzenden Position erhob. „Aber besser, du gehst jetzt.“

      Sprachlos starrte ich ihn an. Das war wirklich ein sehr durchschaubarer Rausschmiss. Aber wie es schien, würde ich nichts mehr von dem Bewohner dieser Welt erfahren.

      Schweigend erhob ich mich ebenfalls und streckte verabschiedend eine Hand aus. Hätte ich das nur gelassen! Bereits als meine Hand völlig in der riesenhaften Pranke verschwand, wusste ich, was nun folgen würde.

      Ein stechender Schmerz durchzuckte mich, als mir der bärtige Hüne zum Abschied die Hand drückte. Dabei war ich mir sicher, dass der Kerl sogar noch behutsam zu sein versuchte.

      Als ich meine Hand wieder hatte, sagte ich meinem großen Gastgeber Lebewohl und wandte mich zum Gehen. Ich hatte nicht für alles eine Erklärung erhalten, aber nach dem undurchsichtigen Troll war ich mit den Antworten des Riesen eigentlich doch recht glücklich.

      Als ich aus dem Tal zurück in die Ebene kam, war die Pfütze in der Senke bereits größer geworden. Ohne Zweifel würde sich hier in den nächsten Tagen – oder Wochen – erneut ein See bilden.

      In der Ferne konnte ich undeutliche Bewegungen ausmachen. Waren das Tiere, die das Wasser rochen und nun näherkamen, um zu trinken? Die dunklen Schemen hatten entfernt Ähnlichkeit mit Antilopen.

      Ich wandte mich in die Richtung, in der ich den Übergang wusste. Mein Steinmännchen, das ich dort gebaut hatte, versicherte mir, dass ich mich auf dem richtigen Weg befand.

      Nachdenklich betrachtete ich die flimmernde Luft, die das Portal umgab. Was mich wohl auf der anderen Seite erwartete? Eine neue Welt? Oder würde ich zurück auf die kleine Insel kommen, die umgeben war von Meerwasser?

      Gerade als ich mich anschickte, den Schritt in den Übergang zu wagen, hörte ich hinter mir lautes Keuchen und das Bersten von Stein.

      Erschrocken drehte ich mich um. Durch die Steinwüste rannte ein rotbärtiger Riese.

      „Verfolgst du mich?“, fragte ich grinsend. Zu meiner Überraschung nickte der Hüne.

      „Ich komme mit dir“, stellte er mich vor vollendete Tatsachen. Und erklärend fügte er hinzu: „Ich möchte der Tochter des Mondes ebenfalls helfen.“

      Ich nickte verdattert. Dann wandte ich mich wieder dem flimmernden Gebilde zu, hinter dem uns eine andere Welt erwartete. Dann würden wir nun also zu zweit nach dem verschwundenen Kind suchen. Damit hatte der so wortkarge Troll am Ende doch Recht behalten. Hilfe würde mir zur rechten Zeit zuteil werden. Ich grinste. Mit solch riesenhafter Hilfe hatte ich aber wahrlich nicht gerechnet.

      Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, holte ich tief Luft und setzte meinen Fuß durch das Portal in eine andere Welt. Oder zumindest in den zähen Kaugummi, der uns dorthin bringen würde.

      Baumwald

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       Die kleine Meerkatze mit dem weißen buschigen Bart hangelte sich aufgeregt von Ast zu Ast. Nichts war mehr so, wie es sein sollte. In einer Backentasche versteckt trug sie die leckere Frucht, die sie eigentlich in aller Ruhe hatte verzehren wollen. Aber dann war sie auf andere Tiere gestoßen, die ihr die Nahrung streitig machen wollten. Schlimmer noch – sie war auf Tiere gestoßen, die sie selbst liebend gern zur Beute gemacht hätten.

       Todesmutig überwand die kleine Meerkatze einen besonders großen Abstand zwischen zwei Ästen und turnte einen anderen Baum hinunter. So weit, dass sie mit den Pfoten bereits das Wasser berühren konnte, das den Stamm umschloss. Was sie da tat, war gefährlich. Mit dem Wasser waren auch zahlreiche Feinde in den Wald gekommen. Krokodile, Schlangen, Fische. Sie alle