Geri Schnell

Der Politiker


Скачать книгу

Priester beichten? Sie könnte ja ein bisschen schummeln. Aber nein, besser gar nichts erwähnen. Das letzte Mal, als sie das heikle Thema der Wünsche einer Witfrau beichtete, verkaufte ihr der Priester eine dicke Kerze mit dem Hinweis, sie frühestens in einem Jahr anzuzünden. Die Kerze steht immer noch neben ihrem Bett.

      Am nächsten Montag steht sie wieder vor ihrer Klasse. Sie ist wieder die Lehrerin. Sonntagabend hatte sie mit den Geschenken einen Kuchen für die Kinder gebacken, den sie in der Pause verteilt. Wenn die Kinder eine Ahnung hätten, wie sie zu den Zutaten gekommen ist, sie würden sich wundern und noch mehr ihre Eltern.

      Mittlerweile kommt sie mit der Klasse gut zurecht. Die meisten können schon recht gut lesen. Willi macht sich gut, ihm gefällt es in der Schule besser als Zuhause. Sein Vater bevorzugt die strenge Erziehung. Eben wie zu Kaiserszeit. Ein deutscher Junge muss gehorchen. Disziplinen ist alles, dass der Spass auf der Streckte blieb, ist für den Vater unwichtig. Auch nachdem der Kaiser abgedankt hatte, ist er immer noch stolz, dass eine Cousine von ihnen, in die Kaiserfamilie eingeheiratet hatte. Doch eines hat Willi den anderen Kinder voraus, bei ihm Zuhause gibt es immer genug zu essen. Dafür ist die Tischzeremonie eher mit einer Kaserne zu vergleichen, als mit einem Familientreffen.

      Das erste Schuljahr geht zu Ende. Frau Kunz oder besser gesagt, Witwe Kunz, ihr in Worms üblicher Name, muss den Kindern Noten in die Zeugnisse schreiben. Etwas das sie gar nicht gerne machte, aber es muss sein. Seit ihrem Mannheimer Abenteuer ist sie ruhiger geworden. Ihre Schuldgefühle hat sie verdrängt. Anfänglich hatte sie Probleme mit der Feststellung, dass die Franzosen sie benutzt haben. Mittlerweile ist sie zur Überzeugung gelangt, dass sie die Männer benutzt hatte! Das macht es ihr wesentlich leichter, das Geschehene zu verarbeiten. Die Nacht in Mannheim ist aus dem Gedächtnis verschwunden.

      Mit der Übergabe der Zeugnisse ist auch ein Gespräch mit den Eltern verbunden. Nervös erwartet sie Willis Vater. Hoffentlich vergisst sie nicht seinen Sohn Wilhelm zu nennen, obwohl er in der Klasse nur der Willi ist. Sie ist sicher, dass sein Vater davon noch nichts weiss. Da Wilhelm ausschliesslich gute Noten bekommt, ist sein Vater sehr stolz und als Folge davon, auch mit der Lehrerin zufrieden.

      «Ich hoffe doch», meint er zum Abschluss des Gesprächs, «dass sie weiterhin sehr streng sind! Manchmal habe ich den Eindruck, dass er hier ein Herrenleben geniesst. Also nicht nachlassen und das Handgelenk entsprechend einsetzten.»

      «Machen Sie sich keine Sorgen», sagt sie und reicht ihm die Hand zum Abschied, «die Kinder wissen genau, wo die Grenzen liegen und das nächste Jahr wird noch strenger.»

      Der nächste Vater, welcher das Zeugnis besprechen muss, macht ihr mehr Sorgen. Der Vater von Joshua, er ist Uhrenmacher. Vor vier Monaten ist sein Frau bei der Geburt des zweiten Kindes samt Kind gestorben. Die Frau ist ihr am ersten Schultag aufgefallen, weil sie schwanger war. Den Mann hatte sie damals nicht gesehen. Natürlich war sie an der Beerdigung der Mutter und dem Kind von Joshua, hielt sich aber im Hintergrund. Sie hatte dem Mann kondoliert. Er war gebrochen. Keine Ausstrahlung und hatte keine Lebenskraft mehr.

      Nun wird sie ihn erneut treffen. Das Zeugnis gibt keine Probleme. Joshua ist ein guter Schüler. Trotzdem wühlt sie das Treffen innerlich auf. Immerhin ist es ein Mann und soweit sie ihn in Erinnerung hat, war er nicht vom Krieg gezeichnet. Es klopft an der Tür, das muss er sein.

      «Grüsse Gott Witwe Kunz», grüsst er und steckt ihr seine feingliedrige Hand entgegen, «ich bin Joshuas Vater.»

      «Grüsse Gott Herr Goldberg, setzen sie sich. Die Bänke sind für uns Erwachsene etwas klein, aber die sind ja für die Kinder gedacht», entschuldigt sie sich.

      Herr Goldberg ist eine stattliche Erscheinung, ihr fallen sofort seine dunklen Augen auf, welche sie freundlich mustern.

      «Ich möchte mich noch bedanken», beginnt Herr Goldberg das Gespräch, «bedanken dafür, dass sie an der Beerdigung meiner Frau waren. Sie blieben im Hintergrund, das ist auch angepasst. Trotzdem ich habe es bemerkt! – Danke!»

      «Das war doch selbstverständlich», erklärt Witwe Kunz, «wie kommen sie zurecht?»

      «Es geht so, meine Schwester hat für Joshua die Mutterrolle übernommen, so geht es einigermassen. Ich kann auch viele Uhren nachts reparieren, dann schläft der Kleine.»

      «Das ist natürlich ein Vorteil, wenn man einen eigenen Laden führt», meint sie und ist froh dass das Gespräch lockerer wird.

      Schliesslich kommen sie auf das eigentliche Thema, nämlich Joshua zu sprechen. Da gibt es mehrheitlich positive Dinge zu erwähnen.

      «Gut er ist noch etwas schüchtern, doch das ist kein Nachteil.»

      Das Gespräch verläuft eigentlich, wie mit den anderen Jungs und doch sie sitzt sehr unruhig auf ihrem Stuhl. Sie hat nicht mehr oft Gelegenheit mit einem Mann allein zu reden und das macht sie nervös. Manchmal ist ihre Hand nur Millimeter von seiner entfernt. Eine ungeschickte Bewegung und sie könnten sich berühren. Doch beide vermeiden diese Geste.

      Nach dem alle Themen durch sind, verabschiedet sich Herr Goldberg mit einem Händedruck, aber diese Berührung ist nicht dasselbe, wie wenn man sich zufällig gestreift hätte. Nun ist es zu spät, das schöne Gefühl, sich mit einem Mann allein zu unterhalten ist vorbei. Noch warten zwei Mütter zum Gespräch über ihre Töchter, dann ist sie fertig.

      Nachts im Bett hat sie Mühe einzuschlafen. Schliesslich streicht sie Herr Goldberg endgültig aus dem Gedächtnis, er hat kein Interesse. Für ihn wäre es ein leichtes gewesen, die Hand leicht zu verschieben, doch er hat es nicht getan. Das Leben in Deutschland ist so schon hart genug. Alles wird teurer. Natürlich ist auch ihr Gehalt gestiegen, doch die Lohnerhöhung kommt immer zu spät, unter dem Strich bleibt immer weniger.

      Im Amtshaus /1922

      «Herr Wolf sofort in den Ratssaal», ruft die Sekretärin des Bürgermeisters, «schnell es herrscht dicke Luft!»

      Nach rund zehn Minuten ist der Ratssaal mit diskutierenden Männern gefüllt. Alle sind da, nur der Bürgermeister fehlt noch, aber seine Schritte hallen schon durch den Gang. Schon sein Tritt verrät, dass er schlechte Laune hat.

      «Sind alle da?», ruft er in den Saal, ohne die Antwort abzuwarten, legt er los, «meine Herren, wir haben ein Problem, die Gewerkschaft hat zum Streik aufgerufen. Wir müssen mit Unruhen rechnen. Die Preise steigen monatlich und nun verlangt die Gewerkschaft, dass der Lohn angeglichen wird. Es ist zum einen ein Problem der Stadt Worms, aber in den anderen Städten ist es ähnlich. Will sich jemand dazu äussern?»

      «Das linke Pack sollte man einsperren», ereifert sich Herr Wolf, «zur Zeit des Kaisers, hätte man nicht lange gezögert.»

      Im Saal wird es laut, die kaisertreue Zentrumspartei hat im Stadtrat zwar eine knappe Mehrheit, doch bei den letzten Wahlen haben die Sozialisten zugelegt. Deshalb arbeiten jetzt auch einige Linke im Stadthaus und die protestierten gegen das Votum von Wolf.

      Der Bürgermeister lässt die erregte Diskussion eine Zeitlang laufen, dann erhebt er die Stimme: «Wir wollen uns doch nicht selber in die Haare geraten. Was wir brauchen sind konkrete Vorschläge. Denken sie daran, unsere Partei steht für christliche Werte ein.»

      Die Diskussionen in kleinen Gruppen gehen weiter. Wolf hält sich zurück. Er hat die bösen Blicke einiger Mitarbeiter gesehen. Einigen ist durchaus zuzutrauen, dass sie handgreiflich werden. Zudem käme auch ihm eine Lohnerhöhung gelegen, es ist wirklich so, alles wird teurer.

      Nach einer halbstündigen Sitzung, einigt man sich darauf, dass zumindest die berechtigten Forderungen erfüllen werden müssen.

      «Die Sitzung ist geschlossen!», verkündet er, «seid vorsichtig, bitte keine Provokationen. Die Stimmung ist heikel, ein Funke und es gibt eine Katastrophe. - Wolf kommen sie noch in mein Büro, wir müssen die finanziellen Möglichkeiten abklären.»

      Schmitz holt noch das Kassenbuch. Den ganzen Vormittag sitzen sie über dem Kassenbuch und rechnen verschiedene Möglichkeiten durch.

      «Also, wenn ich das richtig verstanden