Joseph Conrad

Joseph Conrad: Das Ende vom Lied – Weihe – Hart of Darkness:


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erinnerte er sich nicht mehr, was einige Tage nach dem Aufklatschen geschehen war. Ein älterer Matrose aus der Mannschaft, der nähen konnte, hatte für das Kind aus einem der schwarzen Kleider der Mutter ein Trauerkleidchen zurechtgemacht.

       Kapitän Whalley glaubte, nicht vergessen zu können. Aber das Leben lässt sich nicht aufstauen, wie ein träger Strom. Es bricht durch und überflutet eines Mannes Kummer, es schließt sich über einem Schmerz, wie die See über einem toten Leib, ganz gleich, wieviel Liebe mit auf den Grund gegangen ist. Und die Welt ist nicht schlecht. Die Leute waren gütig gegen Kapitän Whalley gewesen; besonders Frau Gardner, die Frau des Seniorchefs von Gardner, Patteson & Co., den Reedern des „KONDOR“. Sie hatte sich freiwillig erboten, für die Kleine zu sorgen, und sie, als es soweit war, mit ihren eigenen Mädchen nach England genommen (und das war damals eine Reise, wenn auch mit der Überlandpost), um ihre Erziehung zu vollenden. Zehn Jahre waren vergangen, bevor er sie wiedergesehen hatte.

      Als kleines Kind hatte sie sich nie vor schlechtem Wetter gefürchtet. Sie bettelte oft, dass er sie in der Brustfalte seines Ölzeugs an Deck nehmen sollte, um den großen Brechern zuzusehen, die über den „KONDOR“ wegschlugen. Das Rauschen und Krachen der Wogen schien ihre kleine Seele mit atemlosem Entzücken zu erfüllen. ‚An der ist ein guter Junge verloren’, pflegte er spaßhaft von ihr zu sagen. Er hatte sie Ivy [Unübersetzbares englisches Wortspiel: ‚Ivy’, weiblicher Vorname, aber auch Efeu. – Anmerkung des Übersetzers] genannt, dem Klang des Wortes zuliebe und vielleicht auch durch eine undeutliche Gedankenverbindung bestimmt. Sie hatte sich eng um sein Herz gerankt und sollte sich, nach seinem Willen, fest an ihren Vater halten können, wie an einen Turm der Stärke; dabei hatte er, solange sie klein war, vergessen, dass sie sich der Natur der Dinge entsprechend wahrscheinlich an irgendeinen anderen halten würde. Doch liebte er das Leben zur Genüge, dass ihm sogar diese Tatsache eine gewisse Befriedigung neben dem mehr heimlichen Gefühl des Verlustes geben konnte. Nachdem er die „FAIR MAID“ gekauft hatte, um einen Zeitvertreib zu haben, hatte er schnell eine ziemlich unvorteilhafte Fracht nach Australien aus dem einfachen Grunde angenommen, um seine Tochter in ihrem eigenen Heim besuchen zu können; dass er dort sehen musste, wie sie nun an irgendjemand hing, verstimmte ihn nicht so sehr wie die andere Erkenntnis, dass der Halt, den sie sich erwählt hatte, sich bei näherer Prüfung als ein recht armseliger Stecken erwies – sogar in Bezug auf die Gesundheit.

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       Dem Alten widerstrebte die unterstrichene Höflichkeit des Schwiegersohnes vielleicht noch mehr als dessen Art, die Geldsumme zu verwalten, die Ivy bei der Hochzeit mitbekommen hatte. Doch sagte er nichts von seinen Befürchtungen. Nur am Tage seiner Abreise, während die Hallentür schon offenstand, hielt er Ivys beide Hände, sah ihr fest in die Augen und sagte: „Du weißt, meine Liebe, alles, was ich habe, ist für dich und die Kleinen. Denke daran, mir immer offen zu schreiben.“ Sie hatte ihm mit einer fast unmerklichen Kopfbewegung geantwortet. Sie ähnelte ihrer Mutter in der Farbe der Augen, im Charakter – und auch darin, dass sie ihn ohne viele Worte verstand. Sie hatte allerdings bald zu schreiben – und über manche dieser Briefe musste Kapitän Whalley seine weißen Brauen hochziehen. Im Übrigen war er der Ansicht, dass er den wahren Lohn für seine Lebensmühen nur erntete, wenn er imstande war, alles zu tun, was man von ihm verlangte. Seit dem Tode seiner Frau hatte er sich keine großen Vergnügungen gegönnt. Bezeichnenderweise weckten die unweigerlichen Misserfolge seines Schwiegersohns aus der Entfernung in ihm sogar eine gewisse Güte gegen den Mann. Der Bursche saß alle Augenblicke so jämmerlich an einer Leeküste fest, dass es augenscheinlich unbillig gewesen wäre, der leichtfertigen Navigation die ganze Schuld zu geben. Nein, nein! Kapitän Whalley wusste wohl, was das hieß. Das Glück fehlte. Er selbst hatte immer sehr viel Glück gehabt, hatte aber auch in seinem Leben zu viele gute Männer – Seeleute und andere – einfach an dem Mangel an Glück untergehen sehen, um die schlimmen Anzeichen nicht zu erkennen. Aus allen diesen Gründen erwog er gerade den besten Weg, um jeden Pfennig, den er zu hinterlassen hatte, recht fest anzulegen, als nach wenigen vorhergehenden Gerüchten (die ihn zufällig zuerst in Shanghai erreichten) plötzlich der große Krach erfolgte. Und nachdem er die Phasen der sprachlosen Verblüffung, der Ungläubigkeit und Entrüstung durchlaufen, hatte er sich mit der Tatsache abzufinden gehabt, dass ihm nichts Nennenswertes übriggeblieben war, das er hätte hinterlassen können.

      Daraufhin, als hätte er nur auf diesen Schicksalsschlag gewartet, gab der Unglücksmensch dort in Melbourne seinen unvorteilhaften Beruf auf und setzte sich zur Ruhe – noch dazu in einem Rollstuhl. ‚Er wird nie wieder gehen können’, schrieb die Frau. Zum ersten Male in seinem Leben fühlte sich Kapitän Whalley etwas niedergeschlagen.

      Für die „FAIR MAID“ wurde es nun mit der Arbeit bittrer Ernst. Es ging nicht länger darum, das Andenken für Teufels-Harry Whalley in den östlichen Meeren wachzuhalten oder einem alten Mann das Taschengeld und die Schneiderrechnung zu bezahlen und vielleicht darüber hinaus noch ein paar feine Zigarren bei Jahresschluss. Er musste sich richtig ins Zeug legen und das Schiff scharf hernehmen, wobei für die Vergoldung der Lebkuchenschnörkel an Steven und Heck wenig übrigblieb.

       Diese Notwendigkeit öffnete ihm die Augen für die grundlegenden Veränderungen in der Welt. Aus seiner Vergangenheit waren da und dort die Familiennamen geblieben, die Dinge und die Männer aber, wie er sie gekannt hatte, waren dahingegangen. Der Name von Gardner, Patteson & Co. fand sich noch an den Mauern von Lagerhäusern an den Quais, auf Messingplatten und Fensterscheiben im Geschäftsviertel von mehr als einem Hafen des Ostens; aber es gab keinen Gardner oder Patteson mehr in der Firma. Es gab auch für Kapitän Whalley keinen Lehnstuhl und keinen Willkomm mehr im Privatbüro, kein kleines Geschäftchen dazu, das man einem alten Freund zum Dank für frühere Dienste gelegentlich zuschob. Die Gatten der Gardner-Mädels saßen hinter den Schreibtischen in dem Zimmer, wo er sich zu Lebzeiten des alten Mannes, lange nachdem er den Dienst verlassen, noch ein Eintrittsrecht gewahrt hatte. Ihre Schiffe hatten gelbe Schornsteine mit schwarzem Rand und einen genau festgelegten Fahrplan, wie eine elende Straßenbahn. Die Winde im Dezember und im Juni machten ihnen nichts aus. Den Kapitänen (ausgezeichneten jungen Leuten, daran zweifelte er nicht) war natürlich Whalley Island vertraut, denn kürzlich hatte die Regierung an der Nordspitze ein weißes festes Feuer eingerichtet (mit einem roten, Gefahr kündenden Seitenlicht nach dem Kondor-Riff zu). Doch die meisten unter ihnen wären wohl aufs höchste überrascht gewesen, zu hören, dass es noch einen Whalley von Fleisch und Blut gab – einen alten Mann, der die Welt durchzog und sich mühte, da und dort eine Ladung für seine kleine Bark aufzutreiben.

      Und überall war es das gleiche. Dahin die Männer, die bei der Nennung seines Namens anerkennend genickt und es als Ehrenpflicht betrachtet hätten, etwas für Teufels-Harry Whalley zu tun. Dahin die Möglichkeiten, die er verstanden hätte auszunützen. Und verschwunden, zugleich mit ihnen, auch die weißbeschwingte Schar der Schnellsegler, die im ungewissen Wehen der Winde dahinlebten und aus der schäumenden See viel Geld herausschlugen. In einer Welt, die den Gewinn auf die Mindestgrenze heruntergedrückt hatte, die ihre freie Tonnage täglich zweimal überzählen konnte und in der magere Frachten drei Monate im Voraus durch Kabel vergeben wurden – in einer solchen Welt gab es keine Aussichten mehr für ein Menschenwesen, das auf gut Glück mit einer kleinen Bark herumzog; keine Aussichten, kaum noch Platz zum Leben.

       Er fand es von Jahr zu Jahr schwieriger. Er litt schwer darunter, dass er seiner Tochter nur kleine Zuschüsse senden konnte. Inzwischen hatte er gute Zigarren ganz aufgegeben und sich sogar bei den billigeren auf sechs Stück am Tage beschränken gelernt. Er schrieb ihr nie ein Wort von seinen Schwierigkeiten, und auch sie ließ sich über die ihren niemals aus. Ihr gegenseitiges Vertrauen zueinander verlangte keine Aufklärungen, und ihr unbedingtes Verstehen hielt an, auch ohne Versicherungen von Dankbarkeit oder Bedauern. Es hätte ihn verletzt, wenn sie es sich hätte einfallen lassen, ihm wortreich zu danken, doch fand er es ganz natürlich, dass sie ihm gestand, sie brauche zweihundert Pfund.

      Er hatte mit der „FAIR MAID“ unter Ballast den Heimathafen der „SOFALA“ angelaufen, um nach einer Fracht Ausschau zu halten, und ihr Brief hatte ihn dort erreicht. Sein Inhalt besagte, dass es keinen Sinn habe, die Tatsache zu beschönigen. Ihr bliebe kein andrer Ausweg, als ein Kosthaus zu eröffnen, wofür ihrer Meinung nach die Aussichten günstig