Klara Chilla

Die Schiffe der Waidami


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was ich dazu beitragen kann, habe ich dem Jungen beigebracht.“

      Ihr Vater wartete auf ein Zeichen des Verständnisses seiner Tochter. Doch das Mädchen war zu verwirrt. Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf, und sie sah ihn verständnislos an, als er sie anlächelte und auf den Jungen deutete, der immer noch leblos ausgestreckt im Sand lag.

      „Komm, schau ihn dir genauer an. – Deswegen hast du schließlich die letzten Wochen im Gebüsch zugebracht, nicht wahr?“

      Vorsichtig, fast als könnte sie ihn aufwecken, trat sie bedächtig an den schlafenden Jungen heran.

      „Wird er auch …“ Sie wagte nicht, den Satz zu beenden und sah ihren Vater fragend an.

      „Schiffe überfallen und versenken?“ Ihr Vater nickte ernst, und ihr Herz verkrampfte sich bei dem Gedanken daran.

      „Aber er wird es besser machen.“

      „Wann?“

      „Wenn ihr euch wiedersehen werdet.“

      Langsam beugte sie sich über den Jungen und studierte das friedliche Gesicht. Immer wenn sie ihn sonst beobachtet hatte, war sein Gesicht voller Anspannung gewesen. Jetzt lag er völlig entspannt vor ihr, und seine gleichmäßigen Züge brannten sich fest in ihr Gedächtnis. Dann fiel ihr Blick auf seinen Oberkörper, und sie deutete auf die linke Brustseite.

      „Wird er dort tätowiert werden?“

      Ihr Vater nickte erneut und legte seine große Hand auf den Punkt über dem Herzen.

      „Die Tätowierung kommt hierhin, damit eine Verbindung zum Herzen entstehen kann. Sie ist so tief, dass sie direkt von dort durchblutet wird und eins mit dem Körper wird. Deswegen wirken die Tätowierungen auch so lebendig.“

      „Wird es ihm wehtun?“ Ihre Augen verfolgten voller Bangen das erneute Nicken ihres Vaters, der sie aufmunternd anlächelte.

      „Er wird sich später nicht mehr daran erinnern können; so wie er alles vergessen wird, was vor der Tätowierung jemals geschehen ist.“

      Ihr Vater hielt seine Hand weiterhin auf der linken Brusthälfte und murmelte kaum verständliche Worte einer ihr unbekannten Sprache. Er begann, die Worte zu einem Gesang zu verweben. Der Gesang klang eindringlich und schwebte förmlich über dem Jungen. Beinahe konnte sie die Klänge sehen, die sich einem Netz gleich über den Kopf des Jungen legten und in sein Ohr drangen. Mit einer plötzlichen Bewegung öffnete er seine Augen und starrte in den Himmel. Eine leichte Berührung an der Schulter ließ sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Vater richten, der ihr unmissverständlich klarmachte, dass sie sich über den Jungen beugen sollte.

      Gehorsam kniete sie sich neben den Jungen, stützte ihre Hände auf beiden Seiten seines Kopfes in den Sand und schaute ihm erneut forschend ins Gesicht. Seine eisblauen Augen, die von langen dichten Wimpern umrahmt waren, waren weit aufgerissen, doch der Blick richtete sich ins Leere. Hätte sich die Brust nicht weiter in einem leichten Takt des Lebens gehoben und gesenkt, wäre sie überzeugt gewesen, dass er tot sein musste.

      Sie zitterte und konnte ihren Blick nicht mehr von dem hübschen Gesicht abwenden. Das Murmeln ihres Vaters hatte sie inzwischen ebenfalls vollständig eingehüllt. Die Klänge schwirrten in einem intensiven Netz um ihren Kopf und drangen ungehindert an Stellen in ihrem Bewusstsein, von deren Existenz sie selbst nichts ahnte. Sie drangen dorthin, wo der Verstand keinen Zutritt erhielt und nur Gefühl und Instinkt die Handlungen lenkten.

      Ihr Kopf wurde immer schwerer, und sie hatte Mühe, sich nicht einfach auf den Körper unter sich fallen zu lassen. Das Gesicht des Jungen verschwamm vor ihren Augen, doch sie wollte es nicht verlieren. Sie wollte ihn für alle Ewigkeiten ansehen.

      Der Klang des Gesanges wurde noch eindringlicher, und sie gab den winzigen Widerstand auf, der sie zwang, die Augen weiterhin offenzuhalten. Ihre Lider senkten sich schwer über die Augen, und ihre Arme gaben unter ihr nach. Wie ein Stein sackte sie auf dem Körper des Jungen zusammen, der im gleichen Moment seine Augen schloss, als wäre eine Tür zugeschlagen worden.

      Das Mädchen hörte nicht mehr, wie der Gesang gleichfalls endete, ihr Vater sie zärtlich in seine Arme nahm und sie zurück zu ihrer Mutter trug, die schon ungeduldig wartend in der Tür stand.

      Sie bemerkte auch nicht, dass ihr Vater zu dem Strand zurückkehrte, um über den Schlaf des Jungen zu wachen und um sich anschließend, von ihm für immer zu verabschieden.

      

      Skrupellos

       - Fünfzehn Jahre später - Die Nebelbank war dicht und undurchdringlich. Jess lachte vergnügt auf, als der Spanier unter voller Fahrt vor ihnen hinein segelte. Offensichtlich hoffte er, dort seinen Verfolger abschütteln zu können. Ihm schien nicht klar zu sein, wer ihn verfolgte. Vor der Monsoon Treasure gab es kein Entkommen, für niemanden. Gerade verschluckte der Nebel die dickbauchige Galeone, als hätte es sie nie gegeben. Cale, sein Erster Maat, hielt direkten Kurs auf den Nebel. Seine braunen Augen funkelten Jess ungeduldig an, während er einen Schritt zur Seite machte, um das Steuer frei zu geben. „Ich denke, du willst übernehmen?“, fragte er mit einer spielerisch angedeuteten Verbeugung. Jess grinste und nahm seinen Platz am Steuerrad ein. „Möge die Jagd beginnen.“ „Aye, aye, Captain.“ Cale grinste zurück und ging gelassen zum Hauptdeck. Jess Morgans Hände umschlossen in einer fast liebevollen Geste das Steuerrad, dann gab er dreien seiner Männer einen Wink, die daraufhin Trommeln von ungewöhnlich großen Ausmaßen an Deck brachten. In geübten Bewegungen stellten sie die Trommeln dicht nebeneinander auf und begannen in wirbelnden Schlägen stakkatoartig einen Rhythmus zu schlagen, der den Männern der Monsoon Treasure in die Glieder fuhr und sie den Kampf herbeisehnen ließ.

      *

      An Deck der spanischen Galeone verfielen die Menschen in eine furchtsame Starre. Die dumpfen, aber kraftvollen Töne der Trommeln drangen wie Klänge aus einer anderen Welt herüber. Unheil schwang auf ihnen mit und brachte es mit jedem Wimpernschlag näher an sie heran. Panik breitete sich unter der Besatzung und den Passagieren aus, die an die Reling traten und verzweifelt versuchten, den dichten Nebel mit ihren Augen zu durchdringen. Doch die Quelle der unseligen Klänge blieb vor ihren Blicken verborgen. Sie selbst hatten mit ihrer Flucht in den Nebel dafür gesorgt, dass sie nun blind und hilflos den dröhnenden Schlägen der Furcht ausgeliefert waren.

      Der Kapitän der Nuestra Senora di Hispaniola wich langsam von der Reling zurück und bekreuzigte sich.

      „Oh, madre de dios, das muss der Herzschlag des Teufels sein.“

      *

      Jess beobachtete die Trommler, deren nackte Oberkörper vor Schweiß glänzten. Ihre Muskeln traten im Takt ihrer Schläge hervor, als würden sie zu dem ekstatischen Rhythmus tanzen. Die Köpfe der Trommelstöcke waren in der Bewegung kaum mehr sichtbar, wenn sie mit absoluter Präzision auf die Trommeln trafen.

      Langsam schloss er die Augen. Die Ausstrahlung der Crew drängte sich in sein Bewusstsein und hielt ihn einen flüchtigen Moment davon ab, mit seinen Sinnen nach der Treasure zu tasten. Seine Männer wurden von den Trommeln so aufgestachelt, dass sie kaum noch zurückzuhalten waren. Wie ein Rudel blutgieriger Wölfe lauerten sie darauf, endlich auf den Gegner zu treffen. Doch Jess interessierte sich jetzt nicht weiter für sie und konzentrierte sich auf die Monsoon Treasure. Er verstärkte den Griff seiner Hände um das Steuerrad, ließ sein Bewusstsein in das Schiff sickern und stellte so die Verbindung mit ihr her. Die Ruhe des Schiffes legte sich wie ein Tuch über ihn, und er spürte, wie sie voller Zufriedenheit mit ihrem Bug den Dunst zerschnitt. Jess war jetzt vollkommen alleine. Alles andere verblasste um ihn herum, und er sah und hörte nichts mehr von dem, was auf Deck vorging. Er war alleine mit der Treasure und versank in das Meer unter ihrem Kiel. Seine Sinne tauchten unter ihr hindurch, entfalteten sich in Richtung Bug und suchten systematisch die See ab. Es dauerte nur wenige Augenblicke, da hatte er bereits den Schiffsrumpf der spanischen Galeone vor ihnen ausgemacht. Eine leichte Drift hatte das Schiff etwas nordwärts getrieben. Instinktiv steuerte Jess die Monsoon Treasure in die gleiche Richtung.

      Der Spanier war nicht weit vor ihnen. Die Galeone arbeitete sich schwerfällig