Irene Dorfner

Das Hortensien-Grab


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      „Natürlich nicht! Ich melde mich sofort wieder, versprochen.“

      Karl Braun hatte aufgelegt. Er setzte sich auf den wackligen Stuhl der kargen Hütte und sah sich um. Hier würde er um nichts in der Welt bleiben wollen!

      „Braun könnte auffliegen, er muss untertauchen.“ Grünberger sprach diesen Satz ohne Gruß ins Telefon, da er befürchtete, dass Doktor Valentin Schober ihn sonst nicht anhörte. Ob er ihm sagen sollte, dass eine Leiche gefunden wurde, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der ganzen Aktion stehen könnte? Schober war in Eile, der würde ihm sowieso nicht zuhören.

      Valentin Schober hasste es, wenn er direkt vor einer Gerichtsverhandlung gestört wurde, aber dieser Anruf war etwas anderes. Er sah sich um, denn Zuhörer konnte er nicht brauchen.

      „Lassen Sie sich etwas einfallen, Grünberger, ich kann mich jetzt nicht darum kümmern!“

      „Ich habe nur die Laube einer Tante anzubieten, aber die gefällt Braun nicht. Ich kann ihn verstehen, die ist nicht wirklich sicher.“

      „Kommen Sie endlich, Herr Schober, die Verhandlung fängt gleich an!“, drängelte der Oberstaatsanwalt Wolfgang Terpitz, der Unpünktlichkeit auf den Tod nicht leiden konnte. Da er auf andere keinen Einfluss hatte, sollte sich wenigstens sein engster Mitarbeiter daran halten.

      „Sofort, Herr Terpitz, geben Sie mir noch eine Minute“, lächelte Schober gequält.

      Murrend ging der Oberstaatsanwalt in den Sitzungssaal.

      „Was ist jetzt? Was mache ich mit Braun? Er hat gedroht, zur Polizei oder Presse zu gehen. Wir brauchen eine Lösung, und zwar schnell“, drängelte Grünberger. Er war vor zwei Jahren von Schober mit diesem Sonderauftrag betraut worden, der bisher keine Probleme gemacht hatte. Außer einiger weniger Kontakte, deren Inhalt er direkt an Schober weiterleitete, gab es nichts, was er groß hätte machen müssen. Es gab sogar Zeiten, in denen Grünberger Brauns Existenz und das Drumherum völlig vergaß. Aber jetzt sah die Lage anders aus. Braun steckte in der Klemme und brauchte seine Hilfe – und er hatte keine Lösung. Er saß, wie Schober auch, in München, bis ins kleine Kaff Tüßling waren es fast einhundert Kilometer. Da Grünberger keine Ahnung hatte, was zu tun war, musste Schober helfen – aber der ließ ihn jetzt hängen.

      „Mir fällt spontan nichts ein, Grünberger, Sie müssen sich vorerst selbst behelfen. Ich melde mich nach der Verhandlung, bis dahin habe ich sicher eine Lösung.“

      „Wie lange...“ Die Verbindung wurde unterbrochen. Grünberger drückte die Wahlwiederholung, aber Schober hatte sein Handy ausgeschaltet. Wütend lehnte sich Grünberger zurück. Hatte Schober damals nicht ausdrücklich betont, dass er bei Problemen immer für ihn erreichbar wäre? Dass das nicht so war, hätte er sich denken können. Jetzt, da er in Not war und alles drohte aufzufliegen, ließ ihn der Drecksack einfach im Stich. Was sollte er jetzt tun? Braun wartete auf seinen Rückruf und auf eine Lösung. Die Gerichtsverhandlung könnte Stunden dauern, auf deren Ende konnte er nicht warten. Wütend nahm er seine Jacke, stieg in seinen Sportwagen und fuhr los. Dann rief er Braun an.

      „Ich bin unterwegs, wir sehen uns gleich.“

      „Wann sind Sie hier?“

      „In etwa einer Stunde. Bis dahin halten Sie die Füße still, verstanden?“

      Braun hatte das Motorengeräusch gehört, also log Schober nicht. Und wenn doch, dann würde er ihm den Arsch aufreißen. Warum hatte er sich nur auf diesen Schwachsinn hier eingelassen? Das Angebot war verlockend und er hatte sofort zugestimmt, als Schober mit ihm sprach. In den letzten zwei Jahren war alles gut gegangen und er hatte ein ruhiges, fast luxuriöses Leben führen dürfen. Und das, obwohl er keinen Finger krümmen musste. Die Leiche war gefunden worden, was alle für undenkbar hielten. Um wen es sich dabei handelte, konnte er sich denken.

      Braun saß in dieser schäbigen Bude und fühlte sich wie im Käfig gefangen. Es gab kein Fenster, durch das er die Lage im Auge behalten könnte. Hier konnte er nicht bleiben! Er ging zu seinem Wagen und fuhr zu einem riesigen Supermarkt. Auf diesem Parkplatz wollte er warten, bis Schober sich meldete.

      Inzwischen waren die Überreste der Leiche vom Grundstück der Familie Olschewski in Tüßling abtransportiert worden. Fuchs fuhr selbst und rief seine Freundin Lore Pfeiffer an, die für die Einteilung der Leichen in der Münchner Pathologie zuständig war.

      „Ich bin mit einem neuen Patienten auf dem Weg zu euch. Hat Doktor Schnabel heute Dienst?“

      „Ja. Möchtest du zu ihm?“

      „Wenn das möglich ist?“

      „Selbstverständlich, ich kümmere mich darum. Hast du heute Zeit für ein Abendessen?“

      „Das kommt auf die Untersuchungsergebnisse an. Du weißt ja, wie lästig die Kollegen bei Ungereimtheiten werden können.“

      Leo Schwartz konnte jetzt den jüngeren Sohn der Familie Olschewski Leo-Max befragen, nachdem die besorgten Eltern ihr Einverständnis gaben. Sie saßen links und rechts neben ihrem Sohn, der auf Leo einen aufgeweckten Eindruck machte.

      „Du bist also der Leo-Max.“

      „Sagen Sie einfach nur Leo.“

      „Den Namen kann ich mir gut merken, ich heiße nämlich auch Leo.“

      „Das sagen Sie doch nur, um sich bei mir einzuschleimen.“

      Leo lächelte und griff zu seinem Ausweis. Der Junge war clever. Die Eltern hingegen waren nicht begeistert, dass ihr Sprössling dermaßen frech mit einem Polizisten sprach. Sie versuchten, ihm seinen Fehler zu erklären, was sehr, sehr lange dauerte und vor allem Hans auf die Nerven ging.

      „Jetzt zeig dem Jungen deinen Ausweis, damit wir vorankommen!“, sagte Hans gelangweilt.

      Der Junge las den Ausweis mit großen Augen.

      „Tatsächlich, Sie haben wirklich die Wahrheit gesagt. Sorry, aber Erwachsene lügen oft.“

      „Das stimmt, das kann ich bestätigen.“

      „Erwachsene lügen die Polizei an?“

      „Jeden Tag. Aber wir sind nicht dumm und merken, wenn man uns anlügt.“

      „Ich merke das auch sofort!“

      „Das glaube ich dir gerne. Du hast gesehen, was in der Grube lag?“

      „Ja, das war echt krass. Ich habe noch nie eine Leiche in echt gesehen!“

      „Du wohnst zwar noch nicht lange hier, trotzdem entgeht dir sicher nichts. Das stimmt doch, oder?“

      Leo-Max nickte. Der Zwölfjährige wäre ein guter Informant. Ob er das ausnutzen durfte? Mal sehen, wie weit er gehen konnte.

      „Die Arbeit der Polizei besteht zum größten Teil aus Beobachtungen. Man muss einen Blick fürs Wesentliche haben. Verstehst du, was ich meine?“

      „Ja, ich denke schon.“

      „Was ist dein Eindruck von Tüßling und den Nachbarn?“ Ob ihn der Junge verstand?

      „Tüßling ist nicht übel. Die Leute sind nett, auch wenn sie sehr neugierig sind. Der Mann von nebenan ist komisch. Der meckert ohne Grund. Es macht Spaß ihn zu ärgern“, alle lachten, auch die Eltern. „Außerdem brennt in seinem Keller Licht, auch in der Nacht. Das kann ich von meinem Fenster aus sehen.“

      „Kannst du mir das zeigen?“ Leo sah die Eltern an. „Natürlich nur, wenn Sie es erlauben.“

      Frau Olschewski nickte. Warum auch nicht?

      Leo folgte seinem Namensvetter ins Obergeschoss des kleinen, alten Hauses, das nach langer Zeit endlich wieder mit Leben gefüllt wurde. Sie betraten ein Zimmer, das eindeutig einem Jungen gehörte, aber das noch lange nicht fertig eingerichtet war. Der Junge ging ans Fenster und winkte Leo zu sich.

      „Von hier aus kann man das Kellerfenster sehen. Es ist das in der Mitte.“

      Leo