Bernd Oei

Franz Kafka


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für einen Versager.

      Er trägt die Ruhe und Sauberkeit anderer Menschen in sich, wäscht sich fort in seinem Verlangen und kehrt zurück an den Platz, der ihm bestimmt ist, an seinem Schreibtisch, die Akten, das Abendbrot. Er denkt vom „verkehrten Ende“ aus. Seit er „Der Verschollene“ unvollendet lies, beginnt er immer mit dem Schluss. Ein Anfang kann nur gelingen, wenn der Schluss besorgt ist.

      Kafkas Selbstanalyse erlaubt ein Urteil über seine Psyche, Gewaltfantasien, erotische Triebunterdrückung, aber auch seinen Schreibstil; zumal er exakten Beschreibungen der Dingwelt einen nicht logisch erscheinenden Sinn entgegen- oder beistellt. Konjunktiv und Indikativ werden vertauscht, Attribute wie beinahe, fast, ein wenig, wahrscheinlich erinnern an die Vergeblichkeit des Versuchens oder Beweisens, Dominanz der Illusion, das Ausgeliefertsein den Träumen und Fantasien gegenüber. „Nur wer ein gutes Gedächtnis hat, kann so viel Fantasie wie Kafka entwickeln“57 (Nabokov).

      Fasziniert von Gesten, legt Kafka eine Handlung in sie hinein und wo er Handlungen beschreibt, so wirkt sie als eine Gebärdensprache. Dies macht die im Sammelband 1913 veröffentliche Geschichte „Unglücklichsein“ deutlich, in der ein Kindergespenst ungeklärter geschlechtlicher Identität aus der Wand des Icherzählers hervortritt und mit seinen Fingern „wie verrückt“ an ihr reibt. Der Dialog nimmt skurrile Züge an über die Bedeutung der offenen oder geschlossenen Tür. Gedanken des Erzählers wirken wie vorausempfundene Realität aufgrund der Furcht vor einem nächtlichen Besuch einer Frau. Seine Geschichte steht mutmaßlich in Zusammenhang mit der 1911 gleichfalls abrupt endenden Erzählung „Das Unglück eines Junggesellen“, in der die Geste sich an die Stirn schlagenden Hand dominiert.

      Im Anschluss an „Unglücklich sein“ heißt Kafka in seinem Tagebuch die Verlobung ein Verbrechen, „weil ich versucht ha-be, den Himmel aufzubrechen … Alles was ich täte, wäre kleinlich … ich falle beinahe sinnlos und es ist das Beste.“58

      Die Gebundenheit an die Familie, die Abhängigkeit vom Vater – erst Winter 1916/1917 bewohnt Kafka im Goldenen Gässchen Nr. 22 ein winziges Haus für sich allein – und der drohende Bankrott der Asbestfabrik lösen Ängste, vermutlich auch Neurosen in ihm aus. Verständigung scheint ausweglos „Nur die mit einem bestimmten Leiden Behafteten verstehen untereinander.“ Nicht nur das Zitat, sondern den ganzen Brief Dostojewskis vom 11. April 1880 schreibt er ab, der mit dem Satz beginnt: „Das gesellschaftliche Leben geht im Kreis vor sich.“ Wo das Leben des Russen beginnt und wo das des Pragers endet, ist schwer zu sagen. Die Stimmen Fremder erscheinen manchmal treffender als die eigene. Wer in der Prag Kafkas acht Wohnungen besichtigt, die immer in der Nähe der Sankt Niklas Kirche liegen, merkt ganz genau, was eine Kreisbewegung ist: bis auf das Arbeitszimmer in der Alchimistengasse kommt der Schriftsteller nie aus seinem angestammten Wohnviertel heraus. Er lebt in einer symbolischen Sackgasse mit „vergitterten Blick auf den Park“, der an Rilkes Gedicht „Der Panther“ denken lässt.

      Es gibt traurige Sätze, Gleichnisse, Aphorismen über die Wehr- und Aussichtslosigkeit wie der Eintrag vom 24. Juni 1914: „Im Grab der Eltern liegt immer auch der Sohn begraben.“ Makaber realistisch wirkt dies, wenn man daran denkt, dass Kafka diese Zeilen bei Ausbruch des ersten Weltkrieges niederschreibt. Obwohl er den Krieg missbilligt, fühlt er sich schuldig , dass er als einer der wenigen in der Versicherungsanstalt zurückbleibt, während Kameraden an der Front scharen-weise fallen oder gebrochen zurückkehren. Im Café wird es täglich stiller und leerer, nur Frauen und alte Männer trinken. Anlässlich der Rekrutierung von Werfels und Weiß notiert er „Neid und Hass gegen die Kämpfenden“.

      Eine Reihe obskurer Geschichten entstehen, die er nicht vollendet und nicht veröffentlicht sehen will. Etwa die einer jungen Mutter, die ihr Kind aus Verzweiflung mit der Krawatte des Vaters erstickt, der im Krieg gefallen ist. Seine Arbeit bei einer Versicherung bringt mancherlei Tragödie auf seinen Schreibtisch. Wer man die Zukunft vorzeitig weckt, bekommt eine schreckliche Gegenwart. Franz sitzt im Café Savoy mit Max seinem helleren Schatten, der sagt, ein Dichter erzeugte Rätsel und keine Lösungen wie ein Anwalt, der Kafka als gelernter Jurist auch ist. Max erzählt von den jüdischen Schauspielern, dem zuletzt, seit es Krieg ist, die nichtjüdischen Zuschauer fehlen, so dass er begonnen hat, Judenwitze zu machen. Franz beobachtet, wie Max beim Essen seinen linken Zeigefinger leicht abgespreizt hält, als würde er sich vor einem darin schwimmenden Käfer ekeln. Sein Mundwinkel sinkt nach unten, beschreibt eine sichelförmige Bewegung, wenn er lacht. Er notiert: Steife Halsmuskulatur. Wangen wie Selchfleisch. Neigt den Kopf immer ein wenig vor, wenn er Zuspruch erwartet. Gelenkige Sehnen, als ob sie aufbegehrten oder sich zum Sprung strafften. Er schmeckt Speichel im Mund, vielleicht ist der faulige Geruch ein gutes Zeichen, Dichter stinken, schreibt er. „Ist es nicht Schuldbewusstsein, das mir den Verstand schärft?“59

      Die letzten Augenblicke des Wachseins sind wie Appell, mehr noch, wie ein Recht zu schreiben. Und dieses Recht be-nutzt er eilig. Er schreibt, um Ordnung in sich zu schaffen, denn Schreiben unterliegt Gesetzen. „Eine kleine Unordnung meines Inneren fängt an, sich herzustellen und nichts brauche ich mehr, denn Unordnung bei kleinen Fähigkeiten ist das Ärgste.“

      Gutes Schreiben ist wie Aufräumen und Sauberkeit, es verrät Selbsterkenntnis. Die Erfindung von Charakteren gleicht einer chirurgischen Handlung, sie muss ab und zu ins Stocken geraten, aber nicht so, dass der Patient stirbt. Eine Handlung fragt nicht nach dem Charakter. Manchmal ist es Franz, als hätten seine Gedanken Beine oder Max verfügte über die Gabe von seinen geschlossenen Lippen abzulesen. Er hat eine Freistellung vom Krieg, die Versicherung und die Krankheit schützen ihn.

      Du musst dir eine Meinung erlauben, Franz. Eine Frage des Selbstvertrauens sagt er, dass du noch nicht hast. Es ist zu laut geworden im Saal. Ob auf seiner Zungenspitze die reine Natur der Worte abzupflücken ist? Nein, sagt Franz, er habe eine durchaus gute Verdauung, sie finde sich nur manchmal nicht ein. Schräg gegenüber von seinem Platz in Café spielt ein Kind mit den reizvollen Beinen der Mutter. Sie lässt es gewähren, zieht seinen Blick auf sich und die flüchtige Begegnung ihrer Augen gibt ihm die Bedeutung, dass sie auf ihn warten wird, bis der Krieg vorbei ist. Dann gleitet ihr Blick auf den Schopf des Kindes herab. Er notiert: „Für Erwachsene ergibt sich doch stets die kindliche Überzeugung, daß einem Kind bei seinen Eltern nichts geschehen kann und daß sich die wirklichen Sorgen so nahe an der Erde nicht vorfinden, sondern auf Gesichtshöhe der Erwachsenen.“ Es sind nur wenige Männer im Café und vielleicht wird das spielende Kind bald eine Halbwaise sein.

      Max liest in Franz das Begehren, aufzustehen und mit der Frau am Nachbartisch ein Gespräch zu beginnen. Aber er sieht es ihm auch an, er wird wieder alleine Spazieren gehen, bevorzugt im Regen, aus Angst, jemanden zu begegnen. „Ich werde mich an mein fortwährendes Versagen gewöhnen müssen.“

      Ein Mann ohne Weib ist ja gar kein Mensch, so steht es im Talmud. Wie soll er die Zukunft mit seinen viel zu ungelenken Armen empfangen? Vergangenheit heißt, es in der seelischen Rumpelkammer zu ertragen. Er muss einen Grund finden, weshalb er überleben darf, fern der Gräber Verduns.

      1 II. 5. Träume

      Sprache kleidet Gedanken, die Träume für uns denken. Kafka träumt viel und präziser als man es gewöhnlich niederzuschreiben vermag, so dass er selbst geneigt ist, sie für halbe Fiktionen zu halten, wenn er von Trancebewusstsein nach dem Erwachen spricht. Seine Aufzeichnungen bestehen aus stetem Wechsel nacherzählter Träume und Prosa an, so dass Ebenen ineinanderfließen. Wenn er einen Theaterbesuch wie „Auf der Galerie“ beschreibt, liest er sich dies wie eine Fortsetzung seines Traums von einer Reiterin. Bühne, Dekoration, Gesten und Kleidung der Schauspieler werden mit solcher Präzision geschildert, wie sie kaum einem erinnerten Traum entsprechen. Andererseits bleibt die Handlung seiner Erzählungen oft vage, schemenhaft, diese Transparenz akzentuiert dunklen Reichtum seiner Fantasie. „Es hatte dies keinen Zweck, als womöglich die ganze Dekoration zu zeigen, da sie nun schon einmal in solcher Vollkommenheit da war ...“60

      In seinem Traum, der so typischer für ihn ist, da er die Bühne und bekannte Gestalten aus dem Alltag mit aufnimmt, kommt es zu gleichfalls charakteristischen Verfolgungs- und Gewaltszenen, wie sie in Kafkas Träumen als auch Prosa üblich sind. Interessant sind Bemerkungen wie „Unter ihnen war ein bekanntes Mädchen, ich weiß aber nicht