Michael Kothe

Siebenreich - Die letzten Scherben


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über den Sockel, beugten sich über das Objekt. Sie entfernten letzte Reste der Form, in der es entstanden war, und raspelten die Ränder glatt, dort, wo die Teile der Form vereinigt gewesen waren. Zwei andere waren dabei, die Oberfläche zu verfeinern. Der Anblick seines Werkes erfüllte den Dunklen Herrscher mit Stolz. Vor seinem geistigen Auge sah er es in den Krieg ziehen, ein Wegbereiter für seine Orks und Goblins. Aber noch war es nicht vollendet! Eines seiner Fragmente hatte ihm ermöglicht zu schaffen, was er sah. Zeit und schier unendliche geistige Kraft hatte es ihn gekostet, zahlreiche Rückschläge hatte er erleiden müssen. Nun sollte ein anderes Bruchstück ihm helfen, sein Werk zu vervollkommnen. Er hatte alle mitgebracht, nun legte er sie in einer bestimmten Anordnung auf ein Pult vor dem Sockel.

      Seit seinem Eintritt hatten die Goblins sich noch mehr beeilt, ihre Tätigkeit zum Abschluss zu bringen. Mit gesenkten Häuptern vermieden sie, ihrem Herrn in die Augen zu sehen. Er wartete stumm und reglos, bis ihre Arbeit getan war. Als sie vom Sockel rutschten, verwies er diejenigen, die nicht eilends von selbst den Ausgang suchten, mit einem harschen Kommando des Raumes.

      Als er sich allein wusste, schob er die Ärmel seiner mit Goldfäden bestickten Robe über die Ellbogen hoch, um die Arme besser bewegen zu können. Das Ritual konnte beginnen.

      1.

      Auf der anderen Seite der Morgenberge schleppte sich Julia vorwärts. Das Gebirge und den Wald hatte sie vor zwei Tagen verlassen. Sie fühlte sich schmutzig, war hungrig, ausgelaugt. Einfach fertig. Dazu kam, was sie von dieser Welt mitbekommen hatte, war der reinste Horror. Surreal, chaotisch. Zuletzt an diesem Vormittag. Auch jetzt, als die Abenddämmerung sich beruhigend über das Land legte, hatte die Angst sie immer noch im Griff. Die letzten Tage hatten einfach ihr Vorstellungsvermögen überstiegen.

      Noch hatte sie gar nicht wahrgenommen, dass sie das Brachland längst hinter sich gelassen hatte und sich nun zwischen Stoppelfeldern dahin mühte. Ein paar Grillen zirpten, als wollten sie dem Sommer ein Abschiedsständchen geben. Als sie den Kopf hob, sah sie das Dorf. Ein paar Häuser nur, eine Mauer außen herum, ein hölzerner Wachtturm am Tor, aber immerhin ein Dorf. Sie riss sich zusammen, verfiel in Trab und eilte erleichtert dem Tor entgegen. Unwillkürlich musste sie über sich selbst lachen, als ihr auffiel, wie sie sogar in ihrer jetzigen Situation brav einen Fuß vor den anderen setzte, die Fußspitzen unbewusst gerade nach vorn gerichtet. Als Kind hatte man ihr eingetrichtert, sie solle auf einen ordentlichen Gang achten. Wenn schon diese Welt nicht funktionierte, wie sie sollte, wollte sie wenigstens ihr eigenes bisschen Ordnung aufrechterhalten!

      Die Kerle waren zu viert.

      »Seht mal dort! Jetzt rennt sie auch noch. Hat wohl unser Dorf entdeckt.«

      »Die Frau ist nicht von hier. Schon auf die große Entfernung sieht sie anders aus.«

      »Du hast Recht. Ihr Gang ist unsicher, aber doch anmutiger. Sehr erschöpft scheint sie mir.«

      »Und sie ist besser angezogen. Wie die edlen Frauen in den Städten. Feinerer Stoff. Schaut, wie ihr Kleid im Wind flattert!«

      Der Größte wandte sein Gesicht dem letzten Sprecher zu.

      »Was weißt du schon von den Städten? Du bist doch nie dort gewesen.«

      Dann sah er wieder nach draußen, verfolgte die Frau mit seinen Blicken.

      »Ja, sie scheint wirklich anders als die Mägde, die sich uns hingeben oder sich zumindest nicht widersetzen. Ich habe Lust auf etwas Frisches, etwas Besonderes. Los jetzt, dann erwischen wir sie noch bei den Büschen vor dem Tor!«

      Eilig kletterten die vier die Leitern des Wachtturms hinab und rannten nach draußen. Vor der Mauer schwenkten sie nach links und huschten gebückt zwischen den Büschen der Frau entgegen.

      Julia lief ihnen direkt in die Arme. Matt und in einem viel zu dünnen Sommerkleid, dessen Risse ihren Betrachtern nun aus der Nähe reichlich bleiche Haut zeigten, schien sie ihnen das geborene Opfer. Sie hatte ihre Lage noch nicht durchschaut, als sie sie schon an sich drückten, sie begrapschten und sie unvermittelt die Hand des ältesten, des Anführers, zwischen ihren Schenkeln spürte. Ihr Herz raste, sie spürte einen Kloß im Hals und bekam ihn einfach nicht hinunter. Schützend presste sie die Hände über ihren Schoß.

      Ihr Peiniger befahl dem jüngsten, oben wieder seinen Posten zu beziehen. Mit dem Zeigefinger auf den Lippen gebot er ihm Schweigen. Andernfalls ..., er fuhr mit ausgestreckten Fingern unterm Kinn von einer Seite zur anderen. Der Junge trollte sich. Die übrigen wussten, was zu tun war. Es war nicht das erste Mal. Zwei standen Schmiere, der dritte machte sich über das Opfer her. Abwechselnd, nacheinander. Nie hatte eine Frau oder ein Mädchen auch nur einen Ton über die Schmach verloren.

      Der Anführer war nun mit ihr allein, sah, wie ihr Körper bebte. Mit dem Handrücken streichelte er ihre Wange. Er nahm sich Zeit, ihr das Kleid von der Schulter zu streifen. Der feine Stoff gefiel ihm, wie alle hier trug er selbst nur grob gewirktes Zeug. Ihre Blicke trafen sich und blieben aneinander hängen. Die Furcht in ihren Augen erregte ihn noch mehr, sie gab ihm das köstliche Gefühl von Überlegenheit. Nur ein Augenblick jedoch blieb ihm, seine Vorfreude auszukosten. Flammender Schmerz durchfuhr ihn und presste ihm die Luft aus der Lunge. Er krümmte sich, fiel auf die Knie. Beide Hände fuhren instinktiv in den Schritt, um einen weiteren Angriff ihres Knies abzuwehren, und in der falschen Hoffnung, den Schmerz wegdrücken zu können. Mit offenem Mund sah er überrascht zu ihr auf. Sein Unterbewusstsein weigerte sich zuzugeben, dass sie ihn angegriffen hatte. Immer noch unfähig, Luft zu holen, sah er ihr nach, wie sie flüchtete, schon hundert Schritte von ihm entfernt das Tor durcheilte. Eben noch hatte sie so erschöpft ausgesehen! Sie musste wohl ihre letzten Kräfte eingesetzt haben.

      Ihr Angriff hatte sie noch begehrlicher gemacht. Als er wieder atmen konnte, ignorierte er den Schmerz und hastete ihr hinterher. Eilig rief er seine Kumpane zu sich. Sie holten auf, je weiter sie ins Dorf rannten, und weideten sich an ihrer Angst. Die paar Knechte und Mägde, an denen sie vorbeiliefen, hoben die Köpfe und sahen ihnen stumm nach. Niemand wollte sich mit ihnen anlegen. Die drei warfen sich gegenseitig aufmunternde Blicke zu, ihres Erfolges waren sie sich sicher: Gerade war die Frau in eine Koppel gerannt. Eine Sackgasse.

      »So ein …«, fluchte der Anführer. Jäh sahen sie sich ihres Vergnügens beraubt, als ein lauter Befehl über den Dorfplatz hallte. Keiner hatte mehr daran gedacht, dass der Bauer penibel auf das Ende der Wachschicht achtete. Wenn er schon seine Knechte zum Wachdienst abstellen musste, gab es Feierabend für sie nach der Wache erst, wenn er sie entlassen hatte. Wutschnaubend und mit geballten Fäusten kehrten die drei um und trotteten ihrem Herrn entgegen.

      Julia achtete nicht darauf, dass sie sich schon mehrere Fingernägel abgebrochen hatte. Sie beeilte sich, das Brett in der Wand des Unterstandes am Ende der Koppel ganz lose zu rütteln und zwängte sich durch die geschaffene Lücke. Auf der anderen Seite umrundete sie das Haus und überwand hastig den offenen Platz dahinter. Zwar erblickte sie einige Dorfbewohner, wagte aber nicht, sich ihnen anzuvertrauen, sie wollte sich nur verstecken. Für einen Augenblick verlor sie die Orientierung, und nachdem sie den Überblick wiedergewonnen hatte, wandte sie sich zwischen zwei der Häuser. Den Menschen, die sie sah und hörte, ging sie aus dem Weg. Ohne es bemerkt zu haben, gelangte sie zurück in die Nähe des Tores. Daneben entdeckte sie nun ein mögliches Versteck. Sie sah sich nach allen Seiten um, erspähte niemanden und rannte hin. Verfolgte man sie, hatte man sie laufen sehen, ihre Richtung erkannt? Wo waren ihre Peiniger von eben?

      Ihr Herz raste, und ihr Atem ging stoßweise. Gern hätte ihre Brust mehr Platz gehabt, sich zu heben und zu senken, aber Julia klemmte zwischen der Mauer und dem Trog fest. Sie saß auf der Erde, die Knie ans Kinn gequetscht, sie hatte sich in die Lücke hineinrutschen lassen. Ihre Schulter brannte. Sie hatte sie sich aufgeschrammt, aber das war jetzt nebensächlich. Ab und zu reckte sie den Hals zur Seite und äugte durch den Spalt, sorgsam war sie darauf bedacht, den Kopf nicht über die Kante zu heben, obwohl ihr Sichtfeld stark eingeschränkt