Frank Pfeifer

Der Junge mit dem Feueramulett - Die Schule der Alchemisten


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in der Unscheinbarkeit des Alltags zu verstecken. Auf Kard hatte keiner mehr geachtet. Und das war auch gut so. Alle waren so mit sich selbst beschäftigt gewesen, ihrer Angst, dass der Tee kalt wurde oder dass die Schergen umfangreiche Untersuchungen anstellen würden. Für niemand war der Jungen, den sie vor kurzem noch für einen Drachenprinzen gehalten hatten, noch ein Münze wert gewesen. Ein echter Drachenkrieger hätte sicherlich nie eine so gewaltige Waffe wie ein geweihtes Minas-Schwert weggeworfen, so wie es Kard getan hatte. Und gerade auch noch in dem Augenblick, als das Glück sich auf die Seite der Geächteten und Verfolgten zu neigen schien. Ein magisches Monster zur Strecke gebracht und den Obersten Schergen erledigt! Ein echter Drachenkrieger hätte sie nun mit der Macht des magischen Schwertes gegen Flanakan, den Unterdrücker, geführt. Dieser Junge konnte also auf keinen Fall ein echter Drachenkrieger oder gar ein Drachenprinz sein! Er war viel weniger! Ein Verräter vielleicht oder im besten Fall einfach nur ein Nichts.

       Ich bin ein Nichts.

      Genauso fühlte sich Kard. Eine wandelnde Leere. Ein Körper, der irgendwie atmete und aß und verdaute und schwitzte, aber im Grunde eine überflüssige Existenz.

      Ohne Madad wäre Kard einfach stehengeblieben und gestorben. Er hatte keinen Grund zu leben. Wozu denn? Wer war er denn? Ein Nichts.

      Der Cu an seiner Seite aber schien zu wissen, was Kard fehlte. Tagelang hatte er den strauchelnden, seelenlosen Körper seines Freundes durch den Dunklen Wald getrieben, bis sie schließlich in Truk gelandet waren. Dort kannte sie niemand. An dem Abend, als sie vor den Stadtmauern aufgetaucht waren, zu einem Zeitpunkt, als die Stadttore längst geschlossen waren, hatten sich bereits einige andere Reisende vor einem großen Feuer versammelt, das die Faols, Bestien, größer als jeder Hütehund und erbarmungslos wie der Tod selbst, von ihnen fernhalten sollte. Madad hatte seinen Freund vor die Flammen gezerrt und ihn den Blick in das Geflacker lenken lassen.

      Das Feuer. Kard erinnerte sich. Und fühlte nach langer Zeit wieder, das Amulett auf seiner Brust pulsieren. Der Drachenzahn ließ ihn sich selbst spüren.

       Feuer.

      Anfangs waren es nur tanzende Farbflecken gewesen, die er wahrgenommen hatte. Dann das Knistern. Dann der Rauch in seiner Nase. Aber es war, als ob nicht er selbst dies wahrnehmen würde, als sei er nur Gast in seinem eigenen Körper. Ein Zuschauer, der ohne irgendein Gefühl einer Zirkusvorstellung beiwohnte. Lange hatte er so vor dem Feuer gestanden. Den Blick starr in die Flammen gerichtet.

      Anfangs hatten die Reisenden ihn nach seiner Herkunft, seinem Namen, seinem Ziel gefragt. Nachdem aber der Ankömmling einfach nur schweigend und bewegungslos zwischen ihnen gestanden hatte, hatten sie begonnen, Witze über ihn zu machen. An seinen Kleidern hatten sie gezogen. Ihm in die Wange gezwickt. Nur das Knurren des gewaltigen Hütehundes an seiner Seite hatte sie schließlich dazu bewogen, von dieser seltsamen Gestalt abzulassen. So stand Kard da, die ganze Nacht, und starrte in die Flammen.

      Mein Name? Den kenne ich ja selbst nicht.

      Kard, so hatte man ihm im Waisenhaus genannt. Aber war das sein richtiger Name? Hatten ihn so seine Eltern genannt? Oder war das nicht einfach nur ein Maßnahme der Obersten Verwaltung, um das Waisenkind irgendwie in die Akten eintragen zu können. Waise Nummer fünfunffünfzigtausendzweihunderteins, kurz Kard.

       Meine Herkunft?

      Es gab schemenhafte Erinnerungen, die vielleicht nicht zum Waisenhaus gehörten, aber er konnte sie nicht zuordnen. Name, Herkunft, nach so etwas fragen die Menschen, wenn sie einen kennenlernten. Wieso eigentlich? Konnten sie einen so besser in ihre Weltsicht einordnen? Obwohl Name und Herkunft doch irgendwie gar nichts über den Menschen aussagten, oder? Aber es ist der Anfang, der Anfang des Menschseins. Und das fehlte Kard.

       Ich habe keinen Anfang. Wie soll ich da ein Ziel haben?

      Das einzige, was ihn verstand, war das Feuer. Kard, der schon immer eine besondere Beziehung zu diesem Element gehabt hatte, hatte an diesem ersten Abend in Truk das Gefühl, dass das Prasseln des Feuers sich direkt in seinem Kopf abspielte. Die Hitze seines Gesichts war nicht mehr zu unterscheiden von der Hitze des Feuers selbst.

       Feuer.

      Der Rauch stieg in seine Nase, hinab in seine Lunge und durchströmte seinen ganzen Körper.

       Ich bin Feuer.

      Irgendwann streckte er die Hand in die Flammen. Er verbrannte sich nicht. Ganz im Gegenteil, es war so, als ob er einen alten Freund umarmen wurde. Er zog die Hand wieder zurück und eine Flamme tanzte auf seiner Handfläche. Kard schloß die Hand zu einer Faust, öffnete sie wieder und begrüßte die Flamme, die weiterhin auf seiner Haut tanzte. Erneut schloß er die Faust, wechselte mit der Flamme einige silbenlose Worte, und öffnete erneut die Faust. Diesmal war die Handfläche leer, so wie es eigentlich sein sollte. Doch als Kard die Flamme rief, tanzte sie erneut auf seiner Haut. Zum Glück schliefen die anderen und außer Madad hatte niemand dieses Schauspiel verfolgt. Der Cu aber knurrte zufrieden, denn in die Augen seines Freundes war ein Glanz zurückgekehrt, den er dort lange vermisst hatte.

      Dann schliefen sie beide ein. Ein tiefer Schlaf voll wilder Träume, an die sich aber keiner am nächsten Morgen erinnern konnte. Aber in ihnen lag ein Versprechen, eine namenlose Hoffnung.

      *

      Wallas war also der ehemalige Waffenschmied von Flanakan gewesen? Diese Information schmeckte dem Vampyr überhaupt nicht. Nachdem sich das Wissen, das Tsarr ihm magisch übermittelt hatte, langsam in seinem Kopf zu ordnen begonnen hatte, war es Laltan klar geworden, dass es hier nicht um gemeinen Verrat ging. Niemand hatte Geld unterschlagen, keiner hatte den Herrscher beleidigt oder die Ehre Goibas beschmutzt. Hier ging es eindeutig um Magie. Ein direkter Angriff auf die magische Quelle der Macht des Herrschers. Und dass ein einstiger Weggefährte Flanakans hier mit im Spiel war, ließ vermuten, das Wallas Informationen hatte, die dem Reich gefährlich werden konnten. War es nur dieses Minas-Schwert gewesen? Nein! Dann hätte Tsarr ihn nicht auf den Jungen angesetzt. Es musste dieser Mensch selbst sein, der sie beunruhigte. Aber warum? Laltan war sich sicher, dass Tsarr ihm nur die Informationen zur Verfügung gestellt hatte, die sie für notwendig erachtet hatte. Um aber die Spur seines Opfers aufnehmen zu können, musste er mehr wissen. Sicherlich wollte die große Tsarr nur das Reich schützen, aber das Wissen, was sie vorenthielt, war wahrscheinlich genau jenes, was er benötigte, um den Jungen ausfindig zu machen. Er würde dort ansetzen, wo alles begonnen hatte: bei der Großen Schlacht, die das Ende der Drachenkönige eingeleitet hatte und den Beginn der Herrschaft Flanakan bedeutete.

      *

      Abends nahm der Wind zu. Abgerissene Winxgrashalme und totes Laub wirbelte über die Dachfirste von Conchar, der Hauptstadt des Reiches Haragor. Auf den Dächern bebten die Ziegel und in den Ställen zitterte das Vieh. Im Feuerturm stöhnten die Flughunde und die große Glocke brummte ein trauriges Lied, sodass der Feuerwächter befürchtete, durch diese Geräuschkulisse in den Wahnsinn getrieben zu werden.

      Der Wind schoss daraufhin in die engen Gassen, brach sich an den Kanten der brüchigen Häuser und zerrieb das Gestein langsam aber sicher zu feinem Staub. Die Bewohner der Hauptstadt versteckten ihre Gesichter und senkten ihren Kopf müde gegen die mitleidlosen Böen.

      Durch die geschlossenen Fensterläden des Audienzsaales der Schwarzen Burg hörte man den Wind nur noch als fernes Rauschen, das protestierend an den Riegeln riss, dessen Flehen aber nicht erhört wurde.

      Makral, Nachfolger von Laoch und jetzt gleichzeitig Oberster der Wachen und der Schergen, hatte sich zu den anderen Obersten des Reiches gesellt. Der Oberster Steuereintreiber, ein Vampyr und Adeliger aus dem Höhlengebirge von Schtalyr, stets griesgrämig, niemals zufrieden, einer der auch dann jammerte, wenn ein Bauer den Steuereintreibern noch das letzte Hemd gab. Der Oberste Verwalter, klein, dick, immer mit einer Notiztafel bewaffnet, auf der er ständig hin und her wischte. Auch der Oberste Stadtrat war diesmal anwesend, einer von Makrals Leuten, denn natürlich war der Oberste Stadtrat nur eine Marionette und ein Spitzel obendrein. Und seitdem Flanakan vor einigen Jahren die Sitzungen des Stadtrates in die Schwarze Burg verlegt hatte, war es auch dem letzten Bewohner Haragors klar geworden, dass