Gösta Berling
Selma Lagerlöf
Inhaltsverzeichnis
Der große Bär auf dem Gurlita-Berge
Der Schatz des Pfarrers von Broby
»Ich trinke keinen Becher Wein, Auf keinem roten Mädchenmund Hat meine Lipp geruht. Ein Antlitz noch so zart und fein, Entfacht von meinem Aug in Glut, Ein Blick, der fleht: ‘Ach, sei mir gut!’ Dringt nicht auf meines Herzens Grund.
Kommt nicht in Eurer Schöne Glanz, Señora, an das Gittertor. Ich scheue Euren Blick! Ich trage Kutt und Rosenkranz, Madonna ists, die ich erkor, Dem Wein zieh ich den Quelltrunk vor, Der ist mein Trost, mein Glück!«
Sobald der letzte Ton verklang, trat Marianne in schwarzem Sammetgewande, in einen Spitzenschleier gehüllt, auf den Balkon. Sie beugte sich über das Gitter und sang langsam und ironisch:
»Weshalb denn weilst du, frommer Mann, Um Mitternacht vor dem Altan, Flehst für mein Seelenheil du bang?«
Plötzlich aber fuhr sie schneller und mit Wärme fort:
»Ach flieh, ach flieh, es geht nicht an! Dein Degen guckt hervor gar lang, Man hört durch deinen frommen Sang Der Silbersporen hellen Klang!«
Bei diesen Worten warf der Mönch seine Vermummung ab, und Gösta Berling stand in einer Rittertracht aus Gold und Seide unter dem Balkon. Er kehrte sich nicht an die Warnung der Schönen, sondern kletterte an einer der Säulen, die den Balkon trugen, hinauf, schwang sich über das Gitter und fiel – wie Patron Julius es arrangiert hatte – der schönen Marianne zu Füßen.
Sie lächelte ihm holdselig zu, ihm ihre Hand zum Kusse reichend, und während die beiden jungen Leute einander, von Liebe bezaubert, betrachteten, fiel der Vorhang.
Und vor ihr lag Gösta Berling mit einem Antlitz, sanft wie das eines Dichters und keck wie das eines Feldherrn, mit tiefen Augen, die von Schelmerei und Geist strahlten, die flehten und drohten. Geschmeidig und kräftig war er, feurig, berückend.
Während der Vorhang aufgerollt und wieder herabgelassen wurde, verharrte das junge Paar regungslos in derselben Stellung. Göstas Augen sahen unverwandt die schöne Marianne an, sie flehten und drohten.
Dann verstummte der Beifall. Der Vorhang ward nicht wieder aufgezogen, niemand sah die beiden.
Da beugte die schöne Marianne sich hinab und küßte Gösta Berling. Sie wußte nicht, weshalb sie es tat, sie mußte es tun. Er schlang den Arm um ihren Hals und preßte sie an sich. Sie küßte ihn wieder und wieder.
Aber der Balkon, der Mondschein, der Spitzenschleier, die Rittertracht, der Gesang, der Beifall waren schuld daran; die armen jungen Menschenkinder waren ganz unschuldig. Sie hatten es nicht gewollt. Sie hatte die Grafenkronen nicht von sich gestoßen, die über ihrem Haupte schwebten, war nicht an den Millionen vorübergeschritten, die zu ihren Füßen lagen, weil sie sich nach Gösta Berling sehnte, und er hatte Anna Stjärnhök noch nicht vergessen. Nein, sie hatten keine Schuld daran, keiner von ihnen hatte es gewollt.
Der sanfte Löwenberg, dem die Träne im Auge und das Lächeln auf den Lippen schwebte, zog an jenem Tage den Vorhang auf. Bedrückt von der Erinnerung vieler kummervoller Ereignisse, schenkte er den Dingen dieser Welt nur wenig Aufmerksamkeit, hatte er es nie gelernt, sie gebührend zu beachten. Als er nun sah, daß Marianne und Gösta eine neue Stellung eingenommen hatten, meinte er, daß dies mit zu der Aufführung gehöre, und zog den Vorhang nochmals wieder auf.
Das junge Paar auf dem Balkon merkte nichts, ehe der Beifallssturm sie abermals umbrauste.
Marianne schreckte auf, sie wollte entfliehen, Gösta aber hielt sie zurück und flüsterte ihr zu: »Stehe still, man glaubt, daß dies mit zu den lebenden Bildern gehört.«
Er fühlte ihren Körper vor Angst erbeben, und die Glut der Küsse erlosch auf ihren Lippen.
»Fürchte dich nicht,« flüsterte er, »schöne Lippen haben ein Recht zu küssen.«
Sie mußten stillstehen, während der Vorhang fiel und wieder aufging und Hunderte von Augen sie jedesmal anstarrten, Hunderte von Händen ihnen stürmischen Beifall zuklatschten.