Rita Renate Schönig

Mulaule


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ihnen diese von höherer Stelle aufs Auge gedrückt worden.

      Während Andreas Dillinger, ihr Lebensgefährte, sich im Archiv des Präsidiums seit Jahren mit Leidenschaft diesen sogenannten „Cold Cases“, widmete, blätterte Lars Hansen – Mitte des Jahres ebenfalls im Rang des Kriminalhauptkommissars – gelangweilt darin herum.

      Hingegen war sein Kollege, Harald Weinert, recht froh über die nicht allzu anstrengende, wenn auch monotone Betätigung. Im Februar war er Vater geworden und hatte in den ersten Monaten kaum eine Nacht durchgeschlafen. Das normalisierte sich zwar – seine kleine Tochter schlief jetzt ganze sechs Stunden am Stück. Dennoch machte sich der monatelange ungewohnte Schlafrhythmus in Form diversen auffälligen Gähnens noch immer bemerkbar.

      Nicole und Lars hatten dafür nur ein müdes Lächeln übrig und den weisen Spruch: So hattest du dir das nicht vorgestellt, oder?

      „Wenn nach so langer Zeit ein Mord noch aufgeklärt wird, kann man schon von einem glücklichen Zufall sprechen“, murmelte Lars halblaut vor sich hin.

      „Sag‘ das nicht“, widersprach Harald. „Du weißt doch selbst, dass es heute möglich ist, durch eine DNS-Analyse den oder die Täter, auch nach Jahrzehnten noch zu überführen.“

      „Vorausgesetzt sie leben noch“, warf Lars ein.

      „Selbst, wenn sie nicht mehr am Leben sind, ist es für die Angehörigen der Opfer immer ein Trost, wenn der Mörder ihrer Liebsten doch noch ermittelt wird, auch wenn er nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden kann.“

      „Wenn du das sagst“, antwortete Lars unaufmerksam und blätterte in den Seiten der vor ihm liegenden dünnen Mappe.

      „Was hat ein Vermisstenfall unter den ungeklärten Mordfällen zu suchen? Da ist dem Andy doch tatsächlich mal ein Fehler unterlaufen.“

      „Kann ja mal passieren“, erwiderte Harald. „Gib her. Ich bring ihm die Akte zurück.“

      In der Hoffnung, für kurze Zeit dem reizlosen Zeitvertreib zu entkommen, streckte er den Arm aus um die Unterlagen entgegenzunehmen. Doch Lars machte keine Anstalten diese seinem Kollegen auszuhändigen.

      Stattdessen nuschelte er vor sich hin: „Das ist allerdings interessant. Es handelt sich um einen 17-jährigen Jungen, Daniel Hagemann aus Seligenstadt. Er ist fast genau heute vor 16 Jahren verschwunden und gilt bis dato als vermisst.“

      „Aus Seligenstadt?“ Harald kam um den Tisch herum und beugte sich über die Schulter seines Kollegen.

      ***

      Was ist nur mit den bösen Jungs los, sinnierte Nicole. Einen Moment ereilte sie die Illusion, die Welt hätte sich zum Guten gewandt und sie – sprich die Kriminalpolizei – würde nicht mehr gebraucht. Der törichte Gedanke entfloh ihrem Bewusstsein so schnell, wie er gekommen war.

       Das wird nie passieren. Das menschliche Wesen ist nicht dafür geschaffen, auf immer und ewig friedlich miteinander umzugehen.

      Ein Spruch, der Andy öfter mal rausrutschte; kein Wunder bei all den verstaubten Akten, von denen er umgeben war.

      Als ihr Handy jetzt klingelte, zuckte sie zusammen und hätte fast ihren Kaffee verschüttet.

      „Wegener“, meldete sie sich lässig. „Ja, ich wohne in Seligenstadt, wieso? ... Eine Tote? Sie machen Scherze?“

      Der Kollege vom Kriminaldauerdienst versicherte mit müder, aber essigsaurer Stimme, dass er in Bezug auf Verstorbene nie Späße machen würde und auch sonst keinen Anlass dazu hätte.

      Nicole wackelte mit dem Kopf und rollte mit den Augen. Nach dem dreiminütigen Gespräch, währenddessen sie sich Notizen machte, rief sie ins Nebenzimmer: „Jungs, wir haben einen Mord.“

      „Au, fein“, kam die Antwort wie aus einem Mund von ihren Mitarbeitern und gleich danach von Harald: „Sorry, so war das nicht gemeint.“

      Nicoles Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. „In Seligenstadt wurde eine Tote gefunden.“ Im gleichen Moment erwartete sie die bekannte Retoure, die auch sofort kam.

      „Was? Schon wieder? Das ist nicht dein Ernst?“ Lars stand am Türrahmen und drohte mit dem Zeigefinger. „Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, in diesen Ort zu ziehen. Leichen auf verlassenen Grundstücken. Leute, die vergiftet, erwürgt und anschließend gerädert werden.“

      „Vergiss nicht die Spukgeschichten, die noch immer in dem Ort die Runde machen“, nahm Harald grinsend den Faden auf. Plötzlich war er hellwach. „Ich sage nur – der schwarze Mönch.“

      „Ja, das Böse ist immer und überall“, konterte Nicole. „Obertshausen ist aber auch nicht gerade der Garten Eden, oder?“ Sie zwinkerte ihrem Kollegen kokett zu.

      „Das nicht. Aber, lass mich überlegen. Wann gab es dort den letzten Mord? 2008 und davor 2003?“ Lars fuhr mit der Hand über seinen Dreitagebart und anschließend durch seine schulterlangen, braunen Haare.

      „Wenn ich mich nicht irre, liegen immerhin 5 Jahre dazwischen. Ein kleiner Unterschied zu deinem auserwählten kuscheligen Domizil – jedes Jahr ein Mord.“

      „Bevor dein Hirn qualmt, schnapp dir einen Dienstwagen. Harald und ich fahren mit dem Insignia, alles andere steht – soweit vorhanden – zu deiner freien Verfügung.“

      In diesem Jahr hatte die Polizeibehörde ihren Fuhrpark um zehn Fahrzeuge erweitert und Nicole hatte sofort einen entsprechenden Antrag auf ein neues Auto gestellt. Zum Erstaunen ihrer Mitarbeiter wurde ihr und ihrem Team ein fabrikneuer Insignia zugeteilt.

      „Übrigens, die Tote trägt die Seligenstädter Tracht“, rückte Nicole mit den ersten Infos heraus. „Soweit mir bekannt ist, findet aber zurzeit keine passende Festivität statt. Sprich du mal mit Josef Maier“, wandte sie sich an Harald. „Vielleicht kann er dir nähere Auskünfte geben.“

      Nicole wusste, dass er sich, seit dem Leichenfund vor zwei Jahren in der NOTH GOTTES-Kapelle, sehr für die Historie Seligenstadts interessierte und deshalb engeren Kontakt mit dem Dienststellenleiter der Seligenstädter Polizei aufgebaut hatte.

      „Wieso rücken wir nicht alle zusammen in einem Wagen an?“, erkundigte sich Lars.

      „Harald und ich fahren anschließend direkt zur Rechtsmedizin nach Sachsenhausen. Dort liegt nämlich schon unsere Leiche. Der griesgrämige Kollege vom KDD informierte mich, dass er bereits die Staatsanwaltschaft benachrichtigt hat und die Obduktion für Punkt 15 Uhr angesetzt ist. Ich denke, da willst du nicht mit?“

      Lars hob die Hände. „Lass diesen Kelch an mir vorübergehen.“

      „Dachte ich mir“, erwiderte Nicole lachend.

      Ihr Kollege hatte eine, für einen Kriminalkommissar nicht unbedingt förderliche Abneigung Leichenöffnungen beizuwohnen, und sie nahm, soweit dies möglich war, darauf Rücksicht. Einmal wies sie sogar den Staatsanwalt, der verbal sein Unverständnis darüber zum Ausdruck brachte, mit der Bemerkung zurecht: Haben wir nicht alle unsere kleinen Macken?

      „In der Kennedyallee haben sie wohl auch nicht viel zu tun“, kommentierte Harald die ungewöhnlich zügige Autopsie.

      „Wenn wir nicht liefern, sind auch der Doc und sein Team arbeitslos“, konterte Nicole, mit einem Grinsen und nahm ihre Tasche und Jacke von der Rückenlehne ihres Bürosessels.

      „Während ihr mit den Kalten ein Rendezvous habt, werde ich meine Beziehung zur elektronischen Datenverarbeitung intensivieren, sobald ihr mir Infos vorlegt“, bot Lars seine Dienste an.

      „Clever“, raunte Harald seinem Kollegen zu.

      „Dafür darfst du den Wagen holen, Harry“, rief der ihm hinterher, mitsamt einem Stift, der aber am Türrahmen abprallte und vor den Füßen von Dr. Ludwig Lechner landete.

      Der Erste Kriminalhauptkommissar der Abteilung des K11 zog erschreckt den Kopf ein.

      „Entschuldigung! Mein Kollege übt noch“, sagte Harald